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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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hätte ich sie schon unendlich tief hineingestoßen, als ich plötzlich ein dünnes Rinnsal Eiter auf dem funkelnden Metall erblickte. Ich vermochte es kaum zu glauben: ich hatte den Abszeß aufgestochen.
    Behutsam öffnete ich die Pinzette so weit wie möglich, um die Abflußöffnung in dem Abszeß zu vergrößern. Aus dem Rinnsal wurde jetzt ein dickflüssiger Strom, der sich über meine Hand, den Hals der Kuh und aufs Stroh ergoß. Ich wartete ab, bis der Strom versiegte, und zog dann die Pinzette heraus.
    Dick sah mich von der Seite her an. »Na, was meinen Sie, Doktor?« fragte er leise.
    »Tja«, sagte ich, »der Eiter ist raus. Jetzt müßte es ihr aller Voraussicht nach bald besser gehen. Kommen Sie, wir rollen sie wieder auf die Brust.«
    Nachdem wir die Kuh in eine bequeme Lage gebracht und ihr einen Haufen Stroh als Stütze für die Schulter aufgeschichtet hatten, sah ich sie mit flehenden Blicken an. Jetzt müßte sie doch zu erkennen geben, daß es ihr besser ging! Sie müßte doch eine gewisse Erleichterung empfinden! Aber Strawberry starrte nach wie vor ins Leere, und ihr Atem ging eher noch schwerer.
    Ich ließ mir einen Eimer mit heißem Wasser geben, tat ein Antiseptikum hinein und wusch meine Instrumente. »Ich kann mir denken, was es ist. Die Wände von dem Abszeß haben sich verhärtet, sie sind dick und hart geworden, verstehen Sie? Weil sie das Ding schon so lange hat. Wir müssen uns gedulden, bis sie sich lösen.«
    Am nächsten Tag schritt ich beschwingt und voller Zuversicht über den Hof und auf den Stall zu. Dick kam gerade aus der Box heraus. »Na?« rief ich. »Wie geht’s unserer Patientin heute morgen?«
    Er zögerte, und meine frohe Stimmung war dahin. Ich wußte, was sein Zögern bedeutete: er überlegte, wie er mir die schlechte Nachricht möglichst schonend beibringen konnte.
    »Tja, ich schätze, es geht ihr ungefähr so gut wie gestern.«
    »Verdammt!« schrie ich. »Es sollte ihr längst sehr viel besser gehen! Na, sehen wir sie uns mal an.«
    Tatsächlich ging es nicht so wie tags zuvor, sondern erheblich schlechter. Und abgesehen von all den anderen Symptomen hatte sie nun auch noch schrecklich tiefliegende Augen – bei Rindern gewöhnlich das sichere Zeichen des nahen Todes.
    Beide standen wir da und starrten auf das jammervolle Wrack dieser einst so herrlichen Kuh. Schließlich brach Dick das Schweigen. »Tja, was meinen Sie?« fragte er mit taktvoll gedämpfter Stimme. »Ist das jetzt ein Fall für Mallock?«
    Beim Gedanken an den Abdecker wurde mir elend. Verzweifelt trat ich von einem Bein aufs andere. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Dick. Ich kann nichts mehr tun.« Ich warf noch einen Blick auf das arme keuchende Tier. Es hatte blubbernden Schaum vor dem Maul und um die Nüstern. »Sie möchten natürlich nicht, daß sie noch mehr leidet, und ich will das auch nicht. Aber lassen Sie Mallock noch nicht kommen – sie ist erschöpft und geschwächt, aber starke Schmerzen kann sie nicht haben. Ich würde ihr gern noch einen Tag Zeit geben. Falls bis morgen keine Besserung eintritt, rufen Sie Mallock.« Es kam mir selbst sinnlos vor. Jeder Instinkt sagte mir, daß keine Hoffnung mehr bestand. Ich wandte mich um, und das Gefühl, versagt zu haben, lastete schwerer auf mir als je zuvor. Als ich in den Hof hinaustrat, kam Dick hinter mir her.
    »Machen Sie sich nichts draus, mein Junge. So ist das Leben. Jedenfalls vielen Dank für alles, was Sie getan haben.«
    Die Worte trafen mich wie ein Peitschenschlag. Hätte er mich verflucht, wäre mir sehr viel wohler gewesen. Da lag seine Kuh im Sterben, die einzige gute Kuh, die er je gehabt hatte, und er bedankte sich bei mir! Er, Dick Rudd, für den der Tod dieser Kuh eine Katastrophe sein würde, sagte mir, ich sollte mir nichts draus machen!
    Niedergeschlagen fuhr ich nach Hause. So sehr ich auch grübelte, ich entdeckte keinen Hoffnungsschimmer. Morgen früh würde Strawberry tot sein.
    Ich war mir dessen so sicher, daß ich mir am nächsten Tag Zeit ließ und beschloß, erst im Verlauf meiner allgemeinen Besuchsrunde nach Birch Tree zu fahren. Es war bereits Mittag, als ich dort eintraf. Ich wußte, was mich erwartete – die üblichen grausamen Zeichen ärztlichen Versagens: die Stalltür würde offen stehen, und am Boden würden die Spuren zu sehen sein, wo Mallock den Kadaver über den Hof zu seinem Lastwagen geschleift hatte. Aber alles war so wie sonst. Dennoch war ich auf das Schlimmste gefaßt. Der Abdecker

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