Der Doktor und das liebe Vieh
abgeschwatzt oder seit Jahren für diese Kuh gespart hatte.
»Sie gibt dreißig Liter am Tag, wunderbar fette Milch. Ich schätze, sie ist soviel wert wie zwei von meinen anderen Kühen. Ein Kalb von ihr wird gutes Geld bringen.« Er strich liebevoll über den tadellos geraden Rücken der Kuh. »Sie hat einen großartigen Stammbaumnamen, aber meine Frau nennt sie Strawberry.«
In diesem Augenblick begriff ich, daß in diesem primitiven Kuhstall mit den hölzernen Verschlagen und den unverputzten Wänden nicht einfach eine neue Kuh stand, sondern das Fundament einer neuen Herde, Dick Rudds Zukunftshoffnung.
Etwa einen Monat später rief er mich an. »Ich möchte, daß Sie kommen und Strawberry untersuchen. Sie macht sich großartig, schüttet die Milch nur so aus, aber heute morgen fehlt ihr irgendwas.«
Die Kuh sah nicht krank aus, und sie fraß auch, als ich sie abtastete, aber mir fiel auf, daß sie sehr hastig schluckte. Sie hatte kein Fieber, und ihre Lungen waren frei, aber als ich neben dem Kopf stand, hörte ich ein schwaches schnarchendes Geräusch.
»Es ist ihr Hals, Dick«, sagte ich. »Wahrscheinlich eine leichte Entzündung, aber es könnte sich auch da drinnen ein kleiner Abszeß entwickeln.« Ich gab mich optimistisch, doch ich war es nicht. Rachenabszesse waren nach meiner begrenzten Erfahrung recht gefährlich. Sie saßen an unerreichbaren Stellen, und wenn sie sehr groß wurden, konnten sie die Atmung stark behindern. Ich hatte bisher nur wenige Fälle dieser Art behandelt und Glück mit ihnen gehabt; der Abszeß war entweder klein gewesen und hatte sich zurückgebildet, oder er war von selbst aufgegangen.
Ich injizierte Prontosil und sagte dann zu Dick: »Sie müssen ihr mindestens dreimal am Tag heiße Umschläge machen – hier, sehen Sie? – und hinterher die Halspartie mit dieser Salbe gut einreiben. Vielleicht haben wir Glück, und der Abszeß geht auf.«
In den folgenden zehn Tagen sah ich regelmäßig nach ihr. Obgleich der Abszeß sich ständig weiterentwickelte, war die Kuh nicht akut krank, aber sie fraß bedeutend weniger, wurde dünner und gab kaum noch Milch. Ich fühlte mich ziemlich hilflos, denn nur das Aufplatzen des Abszesses konnte Erleichterung bringen, und ich wußte, daß die verschiedenen Injektionen nicht viel Sinn hatten. Aber das scheußliche Ding wollte und wollte nicht aufgehen.
Gerade zu dieser Zeit nahm Siegfried an einer Konferenz über Pferdekrankheiten teil, die eine Woche dauern sollte. Für ein paar Tage war ich voll ausgelastet, und mir blieb kaum Zeit, über Dicks Kuh nachzudenken, bis er eines Morgens mit dem Rad bei mir erschien. Er begrüßte mich fröhlich wie immer, aber seine Heiterkeit wirkte irgendwie unnatürlich.
»Könnten Sie wohl kommen und sich Strawberry ansehen? Seit drei Tagen geht es ihr schlechter. Sie glauben gar nicht, wie elend sie aussieht.«
Ich fuhr sofort los und war lange vor Dick in Birch Tree. Beim Anblick von Strawberry blieb ich wie angewurzelt stehen und starrte entsetzt auf das, was noch vor kurzem ein Bild von einer Kuh gewesen war. Strawberry war jetzt nicht viel mehr als ein mit Fell bedecktes Skelett. Ihren kratzenden Atem hörte man im ganzen Stall, und beim Ausatmen blies sie die Backen auf – ein Phänomen, das mir noch nie begegnet war. Ihre Augen starrten angstvoll auf die Wand. Ab und zu hustete sie mühsam, und dann tropfte Speichel aus ihrem Maul.
Ich muß wohl lange so dagestanden haben, denn auf einmal war Dick an meiner Seite.
»Jetzt ist sie das schäbigste Tier im ganzen Stall«, sagte er grimmig.
Für mich war das wie ein Stich ins Herz. »Es tut mir so leid, Dick. Ich hatte keine Ahnung, daß sie in einem solchen Zustand ist. Ich kann es noch gar nicht glauben.«
»Ja, es kam auch ganz plötzlich. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß eine Kuh sich so schnell verändert.«
»Der Abszeß muß unmittelbar vor dem Aufbrechen sein«, sagte ich. »Sie bekommt ja kaum noch Luft.« Während ich sprach, begann die Kuh so heftig zu zittern, daß ich dachte, sie werde umfallen. Ich lief hinaus zum Wagen und holte eine Blechdose mit einem Koalin-Breiumschlag. »Kommen Sie, Dick, wir wollen ihr das auf den Hals legen. Vielleicht hilft es.«
Als wir fertig waren, sah ich Dick an. »Wenn wir Glück haben, passiert’s heute abend. Es muß einfach aufgehen.«
»Und wenn nicht, dann kratzt sie morgen ab«, brummte er. Ich sah wohl sehr bekümmert aus, denn plötzlich grinste er.
»Nehmen Sie’s
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