Der Doktor und das liebe Vieh
zitternden Pony.
»Das arme Vieh«, sagte er sanft und fügte, ohne mich anzusehen, hinzu: »Sie haben nicht übertrieben, James. Würden Sie bitte das Etui aus dem Wagen holen?«
Als ich zurückkam, war er dabei, dem Pony einen Strick unten um den Hals zu binden. »Ziehen Sie ihn stramm«, sagte er. Als die Drosselvene straff und angeschwollen hervorstand, desinfizierte er schnell die kleine Stelle, betäubte sie mit einem Lokalanästhetikum, öffnete das alte Lederetui und entnahm ihm die in sterile Scharpie gehüllte Lanzette.
Und dann ging es los. Er setzte die kleine Klinge der Fliete auf die hervorstehende Ader und schlug ohne Zögern einmal kräftig mit dem Holzstab darauf. Sofort spritzte eine beängstigende Kaskade von Blut aus der Öffnung und bildete einen dunklen See im Gras. Mr. Myatt rang nach Luft, und die drei kleinen Mädchen schnatterten plötzlich alle zugleich. Ich verstand, wie ihnen zumute sein mußte. Und ich überlegte selbst, wie lange das Pony wohl diesen gewaltigen Aderlaß aushalten konnte, ohne zusammenzubrechen.
Doch Siegfried zog einen anderen Stab aus seiner Tasche, stieß ihn dem Pony ins Maul und bearbeitete damit seine Kinnbacken, bis das Pony zu kauen begann und das Blut noch kräftiger strömte.
Als mindestens vier Liter abgeflossen waren, schien Siegfried zufrieden. »Jetzt lockern Sie den Strick, James!« rief er. Rasch schloß er die Wunde am Hals mit ein paar Nadelstichen. Dann ging er mit großen Schritten durch das Gras und blickte über ein Tor in der Mauer am Straßenrand hinweg. »Dacht’ ich mir’s doch«, rief er. »Da ist ein kleiner Bach auf dem Feld. Wir müssen das Pony dort hinschaffen. Los, alle Mann zupacken!«
Er genoß offensichtlich die Situation, und wie gewöhnlich riß er alle anderen mit. Die Myatts fühlten sich angespornt. Sie stolperten ziellos hin und her und rannten einander fast um. Selbst das Pony schien sich zum erstenmal für seine Umgebung zu interessieren.
Die Myatts zogen alle fünf an dem Halfter, Siegfried und ich schlangen die Arme um die Beine des Ponys, und unter unseren aufmunternden Rufen setzte es sich schließlich in Bewegung. Es war ein mühsames Unternehmen, aber das Pony trottete weiter – durch das Tor und über das Feld bis zu der Stelle, wo der seichte Bach zwischen dichtem Röhricht dahinfloß. Da das Ufer flach war, machte es keine Schwierigkeiten, das Pony in die Mitte des Bachs zu bugsieren. Und als es dort stand und das eiskalte Wasser um seine entzündeten Hufe plätscherte, glaubte ich in seinen Augen zu lesen, daß es ihm endlich besser ging.
»Jetzt muß es eine Stunde dort stehen bleiben«, sagte Siegfried. »Dann führen Sie es rund um das Feld, und danach muß es wieder eine Stunde in den Bach. Je besser es ihm geht, um so länger können Sie es herumführen, aber es muß immer wieder mit den Hufen in den Bach. Das alles macht eine Menge Arbeit. Wer will die Aufgabe übernehmen?«
Die drei Mädchen kamen schüchtern näher und sahen ihn mit großen Augen an. Siegfried lachte. »Ihr drei wollt es also machen? Gut, ich sage euch, was ihr tun müßt.«
Er zog die Tüte mit Pfefferminzbonbons, die er immer bei sich hatte, aus der Tasche, und ich machte mich auf eine lange Wartezeit gefaßt. Ich hatte ihn schon manchmal auf Bauernhöfen mit Kindern beobachtet, und wenn diese Tüte erst zum Vorschein kam, war das ein sicheres Zeichen dafür, daß er alles andere vergessen hatte.
Jedes der kleinen Mädchen nahm mit feierlicher Miene einen Bonbon, und dann hockte Siegfried sich vor ihnen hin und redete auf sie ein. Nach einer Weile tauten sie auf und riskierten die ersten Zwischenbemerkungen. Die kleinste erzählte eine lange Geschichte von den erstaunlichen Sachen, die das Pony gemacht hatte, als es noch ein Fohlen war. Siegfried hörte aufmerksam zu und nickte hin und wieder ernst mit dem Kopf.
Seine Worte waren offenkundig auf fruchtbaren Boden gefallen. Jedesmal, wenn ich an den folgenden Tagen bei den Zigeunern vorbeifuhr, sah ich die drei wilden kleinen Mädchen, wie sie am Bach vor dem Pony standen oder es an seinem Halfter um das Feld herumzogen. Ich brauchte mich nicht einzumischen – ich sah, daß es dem Pony besser ging.
Ungefähr eine Woche später zogen die Myatts weiter. Ich begegnete ihnen, als ihr roter Wohnwagen über den Marktplatz von Darrowby schaukelte. Die Pferde, an verschiedenen Enden des Wohnwagens angebunden, trotteten munter dahin. Die Nachhut bildete das Pony. Es war noch ein wenig
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