Der Doktor und das liebe Vieh
ging mit ihr hinaus in die Dunkelheit, und es war mir, als befände ich mich an Bord eines schlingernden Schiffes. Der Boden hob und senkte sich unter meinen Füßen, und ich mußte breitbeinig wie ein Seemann gehen, um nicht der Länge nach hinzuschlagen. Ich lehnte mich an die Mauer des Gebäudes, aber auch das half nichts, denn die Mauer hob und senkte sich ebenso wie der Boden. Wellen von Übelkeit brandeten über mich hinweg. Ich dachte an den Schinken und die Eierpastete und stöhnte.
Nach Luft ringend stand ich in der Kälte und blickte hinauf zu dem klaren, strengen Nachthimmel, den mitleidlosen Sternen und dem mürrischen Mondgesicht, über das graue Wolkenfetzen hinwegtrieben. »Mein Gott«, jammerte ich, »warum hab ich bloß all dies verdammte Bier getrunken?«
Aber ich mußte mich um Connie kümmern. Ich legte den Arm um sie. »Komm, es ist kalt, wir wollen uns ein bißchen Bewegung machen.« Taumelnd gingen wir um das Gebäude herum. Nach jeder zweiten oder dritten Runde blieben wir stehen, und ich atmete tief und schüttelte mich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Doch ich hatte in meinem Rausch vergessen, daß sich das Gebäude auf einem kleinen Hügel befand, und so geschah es, daß wir bei einem unserer schwankenden Rundgänge plötzlich ins Leere traten und eine schlammige Böschung hinunterpurzelten, bis wir schließlich, zu einem Knäuel verschlungen, unten auf der harten Straße landeten.
Ich lag ganz friedlich da, bis ich ein klägliches Wimmern neben mir hörte. Connie! Bestimmt hat sie sich etwas gebrochen, dachte ich. Doch als ich ihr auf die Beine half, stellte ich fest, daß sie – ebenso wie ich – unverletzt war.
Wir gingen zum Eingang zurück und blieben an der Tür stehen. Connie war nicht wiederzuerkennen. Ihr schönes Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht, ihre Augen blickten leer, und dicke Tränen kullerten ihr über die Wangen. Mein ganzer Anzug war beschmutzt, und ich fühlte förmlich, wie der Lehm in meinem Gesicht verkrustete. Mir war sterbenselend zumute, verzweifelt sanken wir einander in die Arme.
In diesem Augenblick hörte ich, wie ganz dicht neben mir eine Frauenstimme »Guten Abend« sagte. Ich wandte mich um. Vor uns standen ein Mann und eine Frau, die uns interessiert von oben bis unten musterten. Sie schienen gerade gekommen zu sein.
Ich versuchte, meinen Blick auf die beiden Gestalten zu konzentrieren, und ein paar Sekunden lang sah ich sie glasklar: es waren Helen und ein mir unbekannter Mann. Sein rosa Babygesicht, sein straff gescheiteltes strohblondes Haar und der makellos elegante Kamelhaarmantel paßten gut zusammen. Er starrte mich verächtlich an. Doch dann verschwammen die beiden wieder vor meinen Augen, und da war nur noch Helens Stimme. »Wir sind hier vorbeigekommen und wollten schnell mal hereinsehen. Amüsieren Sie sich gut?«
Plötzlich sah ich Helen wieder ganz deutlich. Sie lächelte freundlich, aber ich merkte, wie ihre Augen immer wieder verdutzt zwischen Connie und mir hin und her wanderten. Ich brachte kein Wort heraus. Ich stand nur da und starrte sie an, wie verzaubert von ihrer stillen Schönheit. Einen Augenblick lang dachte ich daran, einfach die Arme um sie zu schlingen. Aber ich verwarf den Gedanken und nickte statt dessen töricht.
»Ja, ich glaube, wir müssen weiter«, sagte sie, und wieder lächelte sie. »Gute Nacht.«
Der blonde Mann nickte mir kühl zu, dann gingen sie fort.
Kapitel 34
Das Bild, das sich mir bot, als ich bei den Zigeunern anhielt, hätte ich gern mit der Kamera festgehalten. Der Grasrand war an dieser Biegung der Straße besonders breit, und dort hockten fünf Zigeuner um ein Feuer, offenbar Vater, Mutter und drei kleine Mädchen. Sie saßen regungslos da und sahen mich durch den aufsteigenden Rauch hindurch mit leeren Blicken an. Es schneite ein wenig, und auf dem dunklen Haar der Kinder glänzten ein paar dicke Flocken. Die Szene hatte irgend etwas Unwirkliches. Gebannt verharrte ich hinter dem Steuer und blickte durch die Scheibe. Ich hatte ganz vergessen, warum ich hier war. Schließlich kurbelte ich die Scheibe herunter und wandte mich an den Mann.
»Sind Sie Mr. Myatt? Ich höre, Sie haben ein krankes Pony.«
Der Mann nickte: »Stimmt. Da drüben.« Er stand auf, ein schmaler, dunkelhäutiger, unrasierter Mann, und kam zum Wagen herüber, eine Zehnshillingnote in der Hand.
Zigeuner wurden in Darrowby immer mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet. Meist kamen sie im Sommer. Dann
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