Der Dominoeffekt
wärst, würde ich Claudia auf der Stelle für dich verlassen.«
Katharina fiel vor Schreck der Unterkiefer herab.
»Jetzt verfall nicht in Panik, ich weiß, dass ich gegen Ulli keine Chance habe«, grinste Veronika. »Du würdest dich auf Dauer mit einer Frau nicht wohl fühlen, davon bin ich überzeugt. Ein bisschen bi okay, aber mehr würdest du nie zulassen. Dafür ist die Hetero-Seite in dir viel zu stark.«
»Hast du Psychologie studiert?«, spöttelte Katharina.
»Nein. Aber ich bin schon zu lange auf Frauen fixiert, um so etwas nicht zu wissen. Und, jetzt mal geschlechtsneutral gesehen, dein Ulli ist ein wahnsinnig lieber Mensch, wenn es den als Frau gäbe, wäre der sogar was für mich. Anstatt zu zaudern, solltest du dich glücklich schätzen, so einen Mann zu haben.«
»Ist mir ja klar. Aber eine Heirat hat so etwas Endgültiges.«
»Ja, auf dem Papier. Nur der Rechtsstatus ändert sich, Folgen hat das nur, solltet ihr euch irgendwann trotzdem mal trennen. Doch das würdet ihr euch eh gründlich überlegen, allein schon wegen Arne. Und das Haus läuft ja auch auf euer beider Namen, oder?«
»Aber ich will auch nicht auf dich verzichten. Das passt doch alles nicht zusammen.«
»Du musst nicht auf mich verzichten. Wenn du das mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, und vor allem, wenn deinem Mann und deinem Kind deswegen nichts abgeht – ich habe keine Probleme damit.«
»Ich habe Horrorszenarien vor Augen, was Ulli sagen würde, wenn er das mit uns mal erfahren sollte«, jammerte Katharina und schnippte ihre Kippe auf den Gehsteig.
Veronika runzelte die Stirn. »So wie ich Ulli kenne, wäre das natürlich ein Drama für ihn, aber er würde das verkraften.«
»Wahrscheinlich hast du Recht.« Der gemeine Knoten in Katharinas Magen verschwand allmählich.
»Und jetzt Schluss mit dem Thema. Ich habe Hunger. Wo sollen wir frühstücken?«
»Ich habe Wielert versprochen, spätestens um zwei im Präsidium zu sein. Wir können irgendwo ein paar Brötchen holen und zu uns fahren.«
Veronika platzierte sich wieder korrekt hinter dem Steuer und startete den Motor. Dann sah sie noch einmal fragend hinüber. »Denkst du wirklich nur an Frühstück?«
Katharina zuckte schelmisch die Achseln. »Wer weiß?«
20
Er hatte noch gut zwanzig Minuten Zeit.
Juri Kamarov lehnte sich an den Mast, auf dem in etwa drei Metern Höhe eine dieser typischen Bahnhofsuhren thronte, und nippte an dem Kaffee, den er sich an einem Kiosk gekauft hatte. Er war viel zu früh, aber das störte ihn nicht. Zu warten, das hatte er gelernt.
Er hatte nicht damit gerechnet, sofort einen Parkplatz zu finden. In NRW hatten vor etwas mehr als einer Woche die Sommerferien angefangen, anscheinend hatte es den Großteil der Einheimischen in südlichere Gefilde verschlagen.
Hinter Kamarov befand sich das Bahnhofsgebäude aus rotem Backstein, von seinem Standplatz aus hatte er alle einfahrenden Züge im Blick, außerdem entging ihm auch auf dem angrenzenden Busbahnhof nicht die kleinste Bewegung.
Nicht nur freie Parkplätze gab es en masse, im Ganzen wirkte Wesel wie ausgestorben. Auf der großzügig ausgebauten Hauptstraße verirrte sich nur alle naselang ein Auto und die wenigen Fußgänger, die der Russe in gut achtzig Meter Entfernung die Ladenfronten in der Fußgängerzone passieren sah, beeilten sich, wieder in den Schatten zu gelangen oder eines der Straßencafés zu erreichen.
Kamarov hatte keinen blassen Schimmer, wen er abholen würde. Nach einem Blick auf den Weseler Fahrplan, der in etwa genauso viele Verbindungen anzeigte wie eine gut sortierte Pommesbude Speisen anbot, hatte er allerdings auch keine Bedenken, seinen zukünftigen Kumpanen nicht zu erkennen. Es war selten, dass Leute per Bahn verschickt wurden, aber für diese Fälle gab es einen genauen Verhaltenskodex: nicht auffallen, nicht mit Handys herumspielen, immer nett und freundlich gegenüber den Mitreisenden sein und vor allem natürlich nicht schwarzfahren.
Am Zielbahnhof, egal wo, befand sich der Treffpunkt stets in der Nähe einer Uhr. Nein, es gab keine geheimen Erkennungszeichen wie etwa eine Zeitung unter dem Arm oder eine Rose im Knopfloch. Große Bahnhöfe wurden eh gemieden und an den kleinen Stationen konnte man sich in der Regel nicht verfehlen.
Der Kaffee war gut, heiß, stark, nicht so eine Plörre wie das, was die Deutschen sonst unter Kaffee verstanden. Juri nahm einen weiteren Schluck und gönnte sich die dritte Zigarette des
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