Der Dorfpfarrer (German Edition)
sehen? Die durch irgendwelchen Glauben vereinten Völker werden mit Menschen ohne Glauben stets leicht fertig werden. Das Gesetz des Allgemeininteresses, welches den Patriotismus erzeugt, wird augenblicklich durch das Gesetz des Sonderinteresses, das es autorisiert und das den Egoismus erzeugt, zerstört. Solide und dauerhaft ist nur, was natürlich ist, und das Natürliche in der Politik ist die Familie. Die Familie muß der Ausgangspunkt aller Institutionen sein. Eine universelle Wirkung beweist eine universelle Ursache; und was Sie von allen Seiten angezeigt haben, geht von dem nämlichen sozialen Prinzip aus, das kraftlos ist, weil es den freien Willen als Basis angenommen hat, und weil der freie Wille der Vater des Individualismus ist. Das Glück von der vermeintlichen Sicherheit, der Einsicht und der Fähigkeit aller abhängen lassen, ist nicht so klug, wie das Glück von der vermeintlichen Sicherheit, dem Verständnis für die Institutionen und der Fähigkeit eines einzelnen abhängen zu lassen. Leichter findet sich Weisheit bei einem Menschen als bei einer ganzen Nation. Völker haben ein Herz und keine Augen, sie fühlen und sie sehen nicht. Regierungen müssen sehen und sich nimmer durch Gefühle bestimmen lassen. Es besteht also ein offenbarer Widerspruch zwischen den ersten Regungen der Massen und der Aktion der Macht, die deren Kraft und Einheit bestimmen muß. Einem großen Fürsten begegnen, ist Zufallswirkung, um in Ihrer Sprache zu reden; sich aber auf irgendeine Versammlung, und wäre sie aus ehrenwerten Leuten zusammengesetzt, zu verlassen, ist eine Narrheit. Frankreich ist närrisch in diesem Augenblick! Ach, Sie sind ebensogut davon überzeugt wie ich! Wenn alle ehrlichen Männer wie Sie ein Beispiel für ihre Umgebung abgäben, wenn alle intelligenten Hände die Altäre der großen Republik der Seelen, der einzigen Kirche, welche die Menschheit auf ihre Bahn gebracht hat, neu errichteten, könnten wir in Frankreich die Wunder wieder erleben, die unsere Väter taten.«
»Was wollen Sie, Herr Pfarrer!« sagte Gérard, »wenn man wie im Beichtstuhl mit Ihnen sprechen muß, sehe ich den Glauben als eine Lüge an, die man sich selber vormacht, die Hoffnung als eine Lüge, die man sich über seine Zukunft vormacht, und Ihre christliche Nächstenliebe als eine Kindeslist, die sich klug verhält, um Süßigkeiten zu kriegen.«
»Und doch schläft es sich gut, mein Herr,« sagte Madame Graslin, »wenn die Hoffnung uns wiegt.«
Dies Wort ließ Roubaud, der sprechen wollte, schweigen, und er wurde durch einen Blick Grossetêtes und des Pfarrers darin bestärkt.
»Ist es unser Fehler?« fragte Glousier, »wenn Jesus Christus keine Zeit gehabt hat, eine Herrschaft nach seiner Moral zu formulieren, wie es Moses und Konfuzius, die beiden größten menschlichen Gesetzgeber, getan haben; denn die Juden und Chinesen existieren, die einen trotz ihrer Zerstreuung über die ganze Welt, und die anderen trotz ihrer Isolierung als Gesamtnation.«
»Ach, Sie machen mir viel Arbeit!« rief der Pfarrer naiv, »doch ich werde triumphieren, ich werde Sie alle bekehren! ... Sie stehen dem Glauben ja näher als Sie meinen. Hinter der Lüge versteckt sich die Wahrheit, kommt doch einen Schritt hervor und dreht euch um!«
Auf diesen Ruf des Pfarrers wechselte die Unterhaltung. Vor seiner Abreise am anderen Morgen versprach Monsieur Grossetête Véronique, ihren Plänen Beistand zu leihen, wenn die Verwirklichung für möglich erachtet würde. Madame Graslin und Gérard begleiteten seinen Wagen zu Pferde und verließen ihn erst bei der Vereinigung der Montégnacer mit der Bordeaux-Lyonner Straße. Der Ingenieur war so ungeduldig, das Terrain kennenzulernen, und Véronique brannte so sehr darauf, es ihm zu zeigen, daß sie beide am Vorabend diese Partie zusammen geplant hatten. Nachdem sie dem guten Greise Lebewohl gesagt, sprengten sie in die weite Ebene hinein und streiften den Fuß der Gebirgskette von der Rampe an, die nach dem Schlosse führte, bis zur Spitze der Roche-Vive entlang. Der Ingenieur erkannte das Vorhandensein der von Farrabesche angezeigten fortlaufenden Bank, die etwas wie eine letzte Fundamentschicht unter den Hügeln bildete. So würde sich, wenn man die Gewässer in der Weise leitete, daß sie den unzerstörbaren Kanal, den die Natur selber gebaut hatte, nicht mehr verstopften, und wenn man ihn von den Erdschichten befreite, die ihn gefüllt hatten, die Bewässerung durch diese lange Rinne, die sich
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