Der Drache am Himmel
bleibe deine Mutter … Was damals war, hat nichts mit dir zu tun … Ich ertrage diese Lebenslüge nicht länger … Nichts passte jetzt. Sie blickte zu ihm auf, in der Hoffnung, er würde ihr verweintes Gesicht sehen und spüren, dass sie Zeit brauchte. Unsicher schob sie ihre Hände übereinander.
»Um Himmels willen! Wieso sitzt du mutterseelenallein in der Kirche?«
Mutterseelenallein! Severin hatte diese Formulierung bestimmt ohne jeden Hintersinn, nur als Floskel benutzt. Aber sie traf Rosa mitten ins Herz.
»Deswegen ja«, sagte sie und ihr Blick glitt von seinem Gesicht hinab zu ihren bleichen Händen.
»Deswegen? Was meinst du denn?«, drängte Severin.
Rosa aber streckte und spreizte ihre Finger und dachte, dass es keinen guten und keinen schlechten Anfang gebe. Es gibt nämlich überhaupt keinen. Und als sie die Hände zu Fäusten ballte, bemerkte sie, wie sich im kalten Gaslicht ihre Haut durchschimmernd hässlich und fahl über die Knöchelchen spannte. Unwillkürlich fuhr ihre eine Hand zur Leuchte, um sie wegzuschieben. Die andere flüchtete in die Jackentasche und stieß auf den schweren Schlüssel. Sie griff zu und brachte ihn mit einem Ruck heraus, hielt ihn noch kurz umklammert, dann wischte sie ihn von sich, sodass er über die Sitzfläche auf Severin zuschlitterte. Sie verspürte eine wunderliche Befriedigung, dass sie diesen Wurf gewagt hatte. Der Schlüsselbart ragte übers Holz und berührte fast Severins Knie. Seine erste Reaktion besagte wenig. Erschrocken wirkte er jedenfalls nicht. Eher begutachtete er den Schlüssel, als frage er sich, wozu so ein Ding gut sei. Mit dem Knie schob er den überhängenden Teil auf die Sitzfläche. Dann nahm er die Hände von den Banklehnen, streckte sich und wandte den Kopf ins Dunkel. Noch immer sagte er nichts. Er zeigte Rosa das Profil einer gleichmütigen Miene. Kein Zeichen von Erschütterung – und so zuckte Rosa zusammen, als plötzlich Severins Zungenspitze hervorschnellte, um die Lippen anzufeuchten, dann nochmals und er sagte ins Dunkel hinaus: »Warst du dort drin?«
»Ja.«
Er wandte ihr ein fast hochmütiges Gesicht zu: »Du warst dort drin?«
»Ja.«
»Die Kisten?«
»Ja.«
»Wann?«
»Heute.«
Er seufzte und schloss kurz die Augen. »Deswegen bist du hier?« Wieder kniff er die Augen zusammen: »Ich habe damit nichts zu tun!«
»Diese Maske … der Geruch …«
»Ich habe nichts damit zu tun, Rosa!« Es klang wie ein Schnauben und er setzte sich in Bewegung. Damit hatte Rosa am allerwenigsten gerechnet. Schon war er aus ihrem Blickfeld verschwunden und in die Dunkelheit abgetaucht. Sie vernahm seine Schritte, dass er stehen blieb, hörte ihn weitergehen. Ob sie ihm nacheilen sollte? Seine Schritte entfernten sich Richtung Chor. Setzten aus. Setzten wieder ein. Die Befürchtung, dass seine Schritte plötzlich ganz verstummen könnten, ließ sie angestrengt horchen. Wenn sie das Knarren der Tür zur Sakristei zu hören bekäme? Aber noch zog er seine Runden. Vermutlich war er unter der Empore. Und vielleicht war er eben an der Wendeltreppe zur Michaelskapelle vorbeigekommen … Sie lauschte. Er hatte wieder angehalten. Rosa blickte dorthin, wo sie ihn vermutete, und glaubte plötzlich seinen Umriss wie einen schwarzen Astralleib zu erkennen. Severins Zuruf kam aber überraschend aus der Gegenrichtung. Er hatte sich vier, fünf Bankreihen von ihr entfernt hingesetzt: »Was willst du von mir, Mutter?«
»Ich kann dich kaum erkennen.«
»Dafür hast du ja scheinbar ein inneres Auge, was?«
»Bleib einfach hier. Geh nicht weg«, sagte Rosa.
»Was für ein Melodram du hier aufführst! Ist doch lächerlich, wie wir hier im Dunkel sitzen!«
»Lächerlich? Was ist daran lächerlich, wenn ein Unschuldiger für dich in den Knast muss? Severin, hör mir zu! Du warst am Fluss! Und ich habe dich belogen. Es mag lächerlich sein, dass wir hier in deinem Münster sitzen. Aber vielleicht kann ich nur hier darüber sprechen. Hör mir …«
»Hör mit diesem Theater auf. Natürlich hast du mich belogen! Du warst gar nicht in der Kapelle!«, rief Severin und sprang auf.
Rosa hob beschwörend die Hände. Auf einmal war ihr klar, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Der Ort mochte grotesk, die Umstände mochten lächerlich sein, aber dieser Augenblick war ihre letzte Chance. Wenn sie ihn jetzt nicht erreichen, wenn sie ihn jetzt nicht aufrütteln konnte – wann dann?
»Du musst mir etwas versprechen, Severin. Versprich mir, dass du mir
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