Der Drache am Himmel
zuhörst. Nur das!« Sie meinte zu erkennen, dass er den Kopf schüttelte, aber er blieb sitzen.
»Ich hatte mir immer ein anderes Leben erträumt. Lebendig sollte es sein und aufregend und mich emportragen, ich weiß nicht, wohin. Wozu sonst hätte ich meine Talente bekommen? Sie kamen mir wie eine Verheißung vor. Höhenflüge standen mir zu, Grenzen würde ich sprengen … Und ich traf einen Mann, für den es keine Grenzen gab. Was man wirklich will, erreicht man auch. So dachte und so lebte er. Eigentlich gefiel er mir gar nicht. Tausend Dinge störten mich an ihm. Verheiratet war er auch. Aber wie er mich ansah! Betörend und befreiend. Seine Blicke waren wie eine Droge für mich. Er sah in mir das Besondere … Er gab mir das Gefühl, dass meine quälende Sehnsucht heilbar wäre, wenn ich nur meine Selbstzweifel fallen ließe. Er selbst hatte keine. Ich wurde seine Geliebte. Es war eine Achterbahnfahrt. Hoch hinauf in die Glückseligkeit und herab in tiefe Höllenqualen. Nie habe ich mehr gelitten, aber nie auch habe ich intensiver geliebt. Das musst du wissen, Severin: Es ist nicht nur eine tragische Geschichte. Hörst du? Dieser Mann ist dein richtiger Vater, Severin. Und er hat dich geliebt, das hat er! Auf seine Art, aber geliebt hat er dich, sogar mehr als seine vier Töchter und Aldo, seinen anderen Sohn. Aber ich wollte nicht mehr. Ich lebte nur noch durch ihn. Begann mich in seiner Maßlosigkeit aufzulösen. Er war … Severin, dein richtiger Vater ist Salvatore Bellini.«
»Salvatore …« Es klang wie ein ersticktes Echo.
»Ja.«
»Ausgerechnet!«
»Ja.«
»Und wenn es so wäre …«
»Es ist so! Severin! Ich bin zu müde zum Lügen, zu alt zum Lügen. Und vielleicht bin ich auch endlich ein wenig klüger geworden.«
Schmerzlich wurde Rosa bewusst, wie weit ihr Sohn von ihr entfernt saß. Wie Barrikaden standen die Bänke zwischen ihnen. Wie gern würde sie jetzt an seiner Seite sitzen – doch käme sie näher, wiche er bestimmt zurück. Setzte sie sich zu ihm, würde er flüchten. So war es halt und so sprach sie: »Was ich dir angetan habe, tut mir unendlich leid. Ich weiß nicht, wie viel Schuld auf mir lastet, dass du dich in deinem dunklen Treiben verloren hast. Nein, bitte, sag jetzt nichts. Vernimm einfach von mir, dass ich dich nie mehr im Stich lassen werde. Mir ist, als ob ich uns beide verleugnet hätte. Ich will nichts auf Salvatore schieben. Das wäre viel zu einfach. Seine dunklen Energien spielen keine Rolle mehr. Niemand hat mich gezwungen, irgendetwas zuzulassen. Was war, habe ich allein mir zuzuschreiben. Dazu will ich heute stehen. Und darum bitte ich dich: Stehe du zu dem, was du angerichtet hast. Dieses Mädchen, diese Katja, ist ertrunken. Sie ist tot, weil du sie in Todesangst versetzt hast. Das ist so. Nichts und niemand holt sie zurück. Aber du kannst wenigstens noch verhindern, dass ein Fehlurteil gesprochen wird. Nein, Severin, ich verlange nicht von dir, dass du dich stellst. Als deine Mutter könnte ich das nie. Aber wenn der wirkliche Täter noch einmal auftreten würde, im selben Aufzug, mit dem Feuer, und die gleichen Spuren hinterließe, dann würde die Anklage wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Verstehst du, Severin? Es geht nur um einen einzigen weiteren Auftritt, von Zeugen bestätigt. Gib mir die Maske, die in der Truhe liegt. Erklär mir, wie das Feuer in Gang gebracht wird. Gib mir den Umhang. Und deine Schuhe brauche ich auch. Mehr verlange ich nicht von dir. Bitte, Severin, komm aus deiner Sackgasse heraus. Lass nicht zu, dass ein anderer für dich büßt. Ich flehe dich an: Komm zu dir! Lass den alten Severin hinter dir! Mein Junge!«
Es wurde still und blieb es lange.
Rosa lehnte sich zurück und fixierte irgendeine dunkle Stelle im ohnehin schwarzen Gewölbe. Ihre lange Rede hatte sie so aufgewühlt, dass sie Severins Reaktion nicht beachten mochte. Einmal war ein Knarren und kurz drauf, aber aus einer anderen Richtung, ein Räuspern zu hören. Da wurde ihr klar, dass er seinen Platz verlassen hatte und beinahe lautlos durchs Dunkel schlich. Jetzt raschelte es. Jetzt knarrte Holz. Vielleicht hatte er sich irgendwo wieder hingesetzt. Einmal meinte sie, ein Seufzen zu vernehmen. Rosa horchte hin und je länger nichts geschah, desto heftiger bedrängte sie die Vorstellung, der Seufzer sei ein Schluchzen gewesen –
Plötzlich Severins Stimme, sonor wie immer: »Aldo ist also mein Bruder, mein Halbbruder?« – »Ja.«
»Deshalb also hat er
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