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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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vor Anstrengung und Zorn. Aber sie war überzeugt, Severins Schritte hinter sich zu hören.

11
Die Stimme
    Aus Henrys Aufzeichnungen
     
     
    S chmerzt es die Luft, wenn sie gepeitscht wird? Leidet der Schatten, wenn man ihn tritt? Natürlich nicht. Mir aber ging es immer schlechter. Seit Tagen war ich bedrückt und verunsichert, obwohl ich doch nur aus einem ätherischen Leib aus Luft und Licht bestehe. So nämlich hatte der berühmte Theologe Augustinus mich als den großen Verführer beschrieben und gewusst, dass er sich mit extrem hoher Geschwindigkeit fortbewege …
    In Wirklichkeit kam ich kaum voran, denn Che-Che, unser Gasthund, den ich an der Leine führte, musste alles und jedes beschnuppern. Schlecht wie es mir ging, schlief ich auch schlecht und deshalb war ich auf dem Weg zu Diedrichs Apotheke, im Münsterviertel gelegen, um mir ein Schlafmittel zu besorgen. In den Nächten plagten mich wirre Gedanken und im flüchtigen Schlummer bedrängten mich abscheuliche Bilder: Blut sickerte aus einer blütenweißen Mauer. Aus einer schwarzen Brühe tauchte gespenstisch kurz der Kopf einer jungen Frau auf, um sogleich wieder zu versinken. Ein Mann rannte und rannte, während seine Haut sich fetzenweise von ihm löste und davonwirbelte wie verkohlendes Papier. Besonders unheimlich war, dass sich diese Bilder in absoluter Lautlosigkeit vor mir abspielten. Im Schlaf allerdings schien ich viel und laut zu reden. Einmal hatte mich Barbara sogar geweckt: »Du zappelst wie ein Besessener! Und was du alles rauslässt!«
    »Was denn?«
    »Alles Mögliche und völlig durcheinander. Am Schluss etwas von Barbarus und Summen, von Ergo und Tell und einer Ulli. « Mit einem heiteren Blinzeln hatte sie wissen wollen, welche Ulli das denn sei und woher ich eigentlich so gut Latein könne. Benommen vom Schlaf hatte ich unbedacht erwidert: »Das kann ich schon ewig.« Barbara hatte nur gelacht, mir einen Kuss gegeben und sich wieder zur Seite gedreht. Ich aber versuchte meinen Angsttraum mit Barbarus in Zusammenhang zu bringen. Dabei hatte ich natürlich gleich begriffen, welchen Ausspruch ich da getan haben musste: Barbarus hic ergo sum, quia non intellegor ulli. Er besagt, dass ich mich als Barbar fühle, weil ich von niemandem verstanden werde. Und genauso war es auch.
    Der Hund bellte empört, als ich ihn am Geländer vor Diedrichs Apotheke anband. Ich ging hinein, musste warten, schaute mich um und nebenbei auch zu Che-Che hinaus. Der beobachtete die Ladentür. Seitlich von ihm parkte eine altmodische schwarze Limousine, die mir nur auffiel, weil in diesem Moment dicht dahinter ein kleiner Wagen anhielt und die Fahrerin heraussprang – es war Réa. Und während auf der Beifahrerseite ein dunkelhäutiger Mann herauskletterte, in dem ich Shandar, ihren Liebhaber, erkannte, entstieg wie auf Stichwort dem schwarzen Wagen Rosa Belzer. Sie trug ihr weißes Haar offen und wirkte grimmig wie eine Herrscherin. Aber sie ist doch gar nicht in der Stadt. Sie ist doch mit Maurice und Lilith in Südfrankreich, oder etwa nicht?
    Réa war hinzugeeilt, die beiden Frauen tauschten Wangenküsse, die alte Lady setzte sich wieder ans Steuer und zog die Tür zu. Shandar, der inzwischen eine unförmige Reisetasche geschultert hatte, umarmte Réa und … stieg zu Rosa in die Limousine, die unmittelbar darauf meinem Gesichtsfeld entglitt. Réa dagegen wendete ihr Auto und verschwand in der Gegenrichtung.
    Ich war verblüfft, nein: Ich war aus der Fassung gebracht. Im Ausschnitt des Schaufensters schwenkte mein Blick hin und her, konsterniert über den Spuk, bei dem sich drei Menschen und zwei Automobile scheinbar in Luft aufgelöst hatten. Ob man mir helfen könne?, erkundigte sich eine Frauenstimme. Ich brachte stotternd meine Bestellung hervor, bekam das Schlafmittel und verließ die Apotheke. Che-Che begrüßte mich freudig, mich aber nervten meine fahrigen Finger, die am Knoten der Leine zupften und rupften, als sei ich in Panik. Sei? Ich war es ja! Ich konnte nicht glauben, dass ich zufällig Zeuge dieser Szene geworden war. Oder war sie eigens für mich eingerichtet worden? Aber von wem? Nur Rosa kam dafür infrage. Diese Rosa! Hatte ich nicht auch sie eines sicheren Zufluchtsortes für Shandar wegen anrufen wollen? Schlagartig glaubte ich zu durchschauen, warum mich der Vorfall so erschütterte: Das lief alles ohne mich. Ich war draußen. Hatte den Überblick verloren. Jemand anders bestimmte und es schien Rosa zu sein. Sie brachte Shandar vor

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