Der Drache am Himmel
Geschäftsführerin verplaudert hatte. Es war Winter. Auffällig abwesend und in einem unvorteilhaft gebauschten Mantel stand da eine Frau und starrte in die Regale, ohne ein einziges Buch zur Hand zu nehmen. Sie trug ein Kopftuch. Von ihrem aschblonden Haar und ihren aparten Gesichtszügen war also wenig zu sehen. Ob ich sie vielleicht beraten dürfe?, fragte ich sie. Bleich vor Kälte bedankte sie sich, ging aber nicht auf mein Angebot ein. Irgendwann verließ sie das Geschäft. Aber eine Woche später war sie wieder da, wieder in Mantel und Kopftuch. Längere Zeit blätterte sie im bekannten Liebe ohne Leid von Joshua Weissner und diesmal kamen wir ins Gespräch. Sie gefiel mir. In ihrem Gesichtausdruck spiegelten sich die gegensätzlichsten Wesenszüge: Sie war ernst. Sie war heiter. Sie war scheu. Sie war selbstbewusst. Vielleicht wirkte sie gerade deshalb beinahe überwältigend echt auf mich. Ich hatte den Eindruck, so klischeehaft es klingt, diese Frau sei ganz bei sich. Und hübsch war sie auch.
Nach ihrer Erinnerung bin ich zurückhaltend bis abweisend gewesen. »Zuerst fand ich dich, Henry, offen gestanden total blasiert. Dann aber merkte ich, dass du Stil hast und Anstand. Du warst so unaufdringlich, dass es irgendwie sexy wirkte!«, gestand sie mir später. Ich erinnere mich nicht mehr. Tatsache ist, dass ich auf Barbara damit Eindruck machte. Weitere Besuche, kurze Gespräche. Es wurde Frühling. Ohne Mantel und Kopftuch wurde augenfällig, dass sie nicht bloß hübsch und natürlich, sondern eine ausnehmend reizvolle Frau war. Ein Mund, der mich an Mandarinenschnitze – ach, ja, Poesie ist nicht meine Stärke. Ohne besondere Eitelkeit wusste sie um ihre Ausstrahlung. Und kannte die Reaktionen der Männer auf sie. Die meisten übten sich in Imponiergehabe. Ich tat nichts dergleichen. (Schließlich war das ja alles im Grunde noch Neuland für mich.) Wieder war sie beeindruckt. Schließlich machte sie den ersten Schritt. Lud mich ein, sie zu einer Vernissage zu begleiten, unverfänglich an einem Samstagnachmittag. Ich hatte leider keine Zeit. Schlug ihr aber einen gemeinsamen Kaffee vor. Sie zögerte. »Dann vielleicht übermorgen? Um sechs habe ich wieder Training, sagen wir um vier?« So kam es. Bei diesem Treffen wurde unser Austausch zum ersten Mal etwas persönlicher. Sie arbeitete als Tennislehrerin, erfuhr ich. Studiert hatte sie Anglistik, aber im Moment keine entsprechende Stelle. Sie erzählte mir einiges über ihre gescheiterte Ehe, die verletzenden Liebschaften ihres Exmannes und über Lilith, ihre Tochter. Barbara erkundigte sich nach meiner Frau. Ich sagte, ich sei Single. Sie war überrascht. Alle Männer, die sich ihr näherten, wiesen sonst gleich zu Beginn, ob wahr oder nicht, darauf hin, dass sie ohne oder in praktisch aufgelöster Beziehung seien. Später gestand sie mir, sie habe damals gedacht, ich sei vielleicht homosexuell. (Biografisch hätte das Sinn gemacht: Was wurden und werden Schwule doch immer noch verteufelt! – Man entschuldige die kleine Randbemerkung.)
Als Barbara sich endgültig in mich verliebte, war ich gar nicht dabei. Im Feuilleton der Sonntagszeitung hatte sie einen Bericht über mich, den erfolgreichen Esoterik-Verleger Henry Lauterbach, gefunden. Das war doch mehr als Buchhändler … Einige Tage später rief sie mich an. Ich spürte genau, wie befangen sie war. Sie gestand mir auch, warum: Sie habe sich nämlich gefragt, mit welchen weiteren Enthüllungen sie wohl sonst noch rechnen müsse. Als wir uns das nächste Mal sahen, kam es zum ersten Kuss. Und da wusste ich, dass ich endgültig in meinem neuen Leben angekommen war. Eine Familie zu haben schien mir auf einmal äußerst reizvoll. Das Kind, ihre Tochter Lilith, war ja schon da. Und gerade als wir eine gemeinsame Wohnung ins Auge gefasst hatten, machte uns das Leben einen Vorschlag. Bei jener Vernissage, zu der ich nicht mitkommen konnte, hatte Barbara die Künstlerin persönlich kennengelernt, eine gewisse Réa. Danach telefonierten sie sporadisch miteinander. Einmal trafen sie sich zum Tennis. Réa wohnte in Merlingen, einer kleinen Stadt am Bodensee. Eines Tages lud sie Barbara zu einer Art Polterabend oder Junggesellinnenabschied ein. Sie wollte nämlich zu ihrem neuen Freund, einem Severin Belzer, ins Pfarrhaus ziehen. Nach der Feier hörte Barbara gar nicht mehr auf, von Merlingen zu schwärmen. Ich beschloss, darin ein Zeichen zu sehen.
Besonders ergiebig waren die langsamen Tänze mit Rosa
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