Der Drache am Himmel
Belzer. Ich führte sie über die Tanzfläche (dachte ich jedenfalls) und sie mich hinter die Kulissen der Stadt. Während Sunrise erfuhr ich, dass die Création Bellini schon vor drei Jahren geschäftlich ins Trudeln gekommen sei. »Salvatore war nie davon überzeugt, dass aus Aldo ein Capo werden könnte. Und auch mir kommen langsam Zweifel, ob uns in diesem phantastischen Park noch viele Feste vergönnt sind«, sagte Rosa.
Beim English Waltz gab sie ihrem Bedauern darüber Ausdruck, dass Aldo seiner Frau nicht endlich reinen Wein einschenke. Dabei meine er es sogar gut, wolle Carla wohl vor allen Sorgen bewahren. Im Grunde jedoch habe er Angst, sie könne ihn verlassen, wenn sie erfuhr, wie schlecht es um ihre Finanzen stand. Und noch mehr sorge er sich möglicherweise um seinen Ruf. »Wie schade aber auch, dass Männer immer die Überlegenen spielen wollen«, seufzte Rosa ganz nah an meinem Ohr.
Passend zu Heavenly Club erzählte sie von ihrem Sohn. Das Pfarramt sei nichts für Severin, denn die Theologie interessiere ihn eigentlich nur als Wissenschaft. Der Lehrstuhl wäre also ideal für ihn. »Aber die haben ihn schon mehrmals mit irgendwelchen undurchsichtigen Manövern ausgebremst.«
Bei Jamais le dimanche kam Réa an die Reihe. Sie sei eine überaus leidenschaftliche Künstlerin: »Leiden und Schaffen, das macht sie aus!« Sie leide an ihrer Kunst und leide an der Welt und kämpfe eifrig an allen Fronten. »Wenn sie bloß nicht so viele Hüte gleichzeitig aufsetzen würde«, sinnierte meine Tanzpartnerin. Doch sei es großartig, wie engagiert sie sich für die passlosen Schwarzen einsetze. Und ob ich wisse, dass sich Réa mit viel Liebe und Zeit einem kriegsversehrten Jungen annehme, einem neunjährigen Tutsi, den es in diese Stadt verschlagen habe? (Ich war ihm in der Stadt schon mehrmals begegnet; jedes Mal hatte mich seine Verstümmelung tief aufgewühlt.) Rosa sagte: »Herzberührend, die beiden zusammen zu sehen. Réa macht Ausflüge, bastelt mit ihm … Neuerdings schrauben sie an einem Kinderfahrrad rum, um es behindertengerecht auszustatten.« Sprachlich sei es noch etwas schwierig, also müssten sie sich mit Händen und Füßen verständigen. Kaum formuliert, erschrak Rosa. »Hat der Junge ja nicht mehr. Füße, meine ich«, murmelte sie und wechselte abrupt das Thema. Ob ich schon von diesem maskierten Exhibitionisten gehört habe, der die Stadt seit einiger Zeit verunsichere! »Krank ist der! Nächtens und vermummt die Leute zu erschrecken! Das wird noch einmal ein schlimmes Ende nehmen.«
Dann kam ein Tango und sie verstummte. Plötzlich war sie jung und provozierend. Ihre Bewegungen wurden verbindlich, fordernd. Ich wollte die Führung behalten und verlor sie (falls ich sie je hatte). Sie lachte und wirbelte sich aus meinem Arm. Kam wendig zurück. Lachte wieder, sah mich eindringlich an und schwang an mir vorbei. Ich bemühte mich, ihrer Spur zu folgen. Jäh wurde mir schwindlig. Eindeutig, dass die Musik direkt über uns war. Hemmungslos, wie die Falten über ihr blaues Gewand schnellten! Was für ein Wesen war sie, Göttin, Hexe, Urbild der Weiblichkeit? Irgendwie brachte ich den Tanz zu Ende. Sie umarmte mich und sagte lächelnd, an Mut hätte es mir nicht gefehlt. Erst da nahm ich wahr, dass die Umstehenden uns applaudierten. Also hatte ich mich offenbar ganz passabel geschlagen. Im Rückblick kommen mir diese vier, fünf Minuten dennoch unheimlich vor. Zum ersten Mal war ich von Empfindungen ergriffen worden, die ich nicht verstand. Ich schob es auf den Alkohol.
Vor Rosa hatte an diesem Abend bereits Carla den maskierten Verrückten erwähnt. Nach dem Spiel mit ihren Kindern war ich mit ihr in ein längeres Gespräch geraten. Carla zeigte sich überrascht, mich dermaßen uninformiert zu erleben, die Lokalpresse habe doch ausführlich berichtet. Solche Geschichten entgehen mir aber immer. Eigentlich bin ich kein Mann für den Boulevard.
Die Opfer, allesamt jüngere Frauen, schilderten den Perversen als »Riesen« in einem braunen Umhang und mit Furcht einflößender Vollmaske. Er sei wie aus dem Nichts aufgetaucht. Habe Grunzlaute ausgestoßen. Sich aller Wahrscheinlichkeit nach auch entblößt, aber das war nicht verbürgt, denn alle hatten sofort die Flucht ergriffen. Carla hielt den Mann für einen bedauernswerten Verirrten, einen Exhibitionisten, der hoffentlich bald gefasst würde. »Der braucht schleunigst Hilfe«, sagte sie. Ich wunderte mich etwas über ihre Anteilnahme –
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