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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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einschlug. Ihr schien, sie würde erstmals ihre Verletztheit zugeben, ihre Wunden nach außen tragen. Das Unrecht in der Welt ängstigte sie. Mit diesem Werk wurde sie deutlicher, ehrlicher … Vielleicht verdankte sie das ihren Erfahrungen mit den Sans Papiers. Als es dämmerte, spannte sie die Stirnleuchte um. Sie musste vorankommen und keinesfalls durften die verfluchten Vermutungen um Aldo sie einholen. Dass sie versprochen hatte, einzukaufen und das Abendessen zuzubereiten, war vergessen. Ein Genuss, wie der Spachtel den kleinsten Regungen ihrer Finger gehorchte. Und sie lobte mit leiser Stimme den Gips, dass er sich allem fügte, was der Spachtel wollte. Sie spürte Schweiß im Gesicht. Spielte mit dem Gedanken, sich ihrer Bluse zu entledigen, musste an Henry denken und behielt sie an. Dann war sie fertig. Sie sprang von der Leiter, schaltete auch die Spotlampe beim Eingang aus, stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Wand und verbeugte sich. Ein kleiner Lichtfleck aus der Stirnlampe zitterte vor ihren Füßen. Sie hätte ihn aufheben und für immer bewahren wollen, so verletzlich wirkte er. Sie spürte Tränen in den Augen.
    Mit verruchter …? Nein, mit befreiter Stimme will sie deklamieren. Die zweite Stimme muss ungestüm klingen. Das Flüstern wird nur den Klangteppich in der Ferne bilden, eine poetische Landschaft, die sie mit Leidenschaft durchwandern wird. Schreien wird sie und weinen, lachen und stöhnen mit ihrer zweiten, ihrer wirklichen Stimme. Ein leeres Band ist eingelegt und läuft. Sie ist ganz durchdrungen von Freude und Anspannung. Es treibt sie durchs Atelier, das jetzt nur noch vom Widerschein zweier Kerzen erhellt ist. Endlich spürt sie wieder einmal diese kindliche Inbrunst: Alles ist möglich, wenn sie nur fest daran glaubt! Noch tanzt sie, aber gleich wird sie schweben. Heiß ist ihr und die Fußsohlen glühen. Also schlüpft sie aus Schuhen und Socken. Das Schnalzen ihrer schweißnassen Füße auf den Dielen gesellt sich zum Keuchen. Je länger sie tanzt, desto sehnsüchtiger erwartet sie die Eingebung, die sich irgendwo in diesem Raum verborgen hält. Es wird geschehen, wenn sie sich gänzlich dem Rausch ergeben hat. Sie schlängelt sich aus der Bluse, weg mit dem BH. Sie tanzt sich aus Rock und Slip, die zu Boden gleiten und wie verlorene Häute liegen bleiben. Nun ist sie bereit für die Metamorphose. Alles kann sie werden. Sie nimmt sich eine der Kerzen und nähert sich der Mauer als schöne Helena … Nein, Kassandra ist sie, die Seherin mit flackerndem Licht. Und siehe da! Die gipsernen Konturen geben ihre geheimen Schatten preis. Sie sieht sie! Sie sieht die Schrift an der Wand. Da steht die große Wahrheit. Réa ist überwältigt. Auf einmal weiß sie, was sie auf das laufende Tonband sprechen wird. Sie hört sich bereits. Wie gelassen sie sich fühlt! Sie steht einfach da, ganz durchflossen vom Vertrauen, dass sie ruhig werden darf. Mit ein paar Wachstropfen klebt sie die Kerze auf die Holzleiter, nimmt eines der Tücher auf, die den Boden zu Füßen der Mauer vor Gipsspuren schützen, schlägt es um sich und tapst über die Häute, die einmal ihre Kleider waren, ins Dunkel. In einer Ecke findet sie den richtigen Platz, um sich hinzukauern. Sie knipst die Stirnlampe aus. Es erregt sie, wie die rauen Gipskrusten im Stoff ihre Haut reizen. Ob sie Spuren auf ihrem Leib hinterlassen werden? Ob die Mikrofone empfindlich genug sind, ihre Stimme von hier aus zu registrieren?
    Dass jemand eingetreten war, merkte sie erst, als die Tür zufiel.
    »Hallo? Réa?«, vernahm sie. Einen Schreckmoment lang war ihr die Stimme fremd, aber schon hatte sie Henry erkannt.
    »Hallo?«, wiederholte er und Réa verstand nicht, warum sie stumm blieb.
    Henry verharrte reglos und schien unschlüssig. Schließlich näherte er sich mit zögerlichen Schritten der weißen Mauer. Sie sah ihn von hinten; schmal wirkte er und größer als sonst. Ein Mäppchen, das er unterm Arm trug, schob er auf eine der Leitersprossen, um wie endgültig zu erstarren, den Kopf zur Seite geneigt. Sie stellte sich vor, dass er angestrengt die Augen zusammenkniff, um besser sehen zu können. Seine Arme wirkten ihrer ganzen Länge nach angewachsen, so regungslos lagen sie an seinem Körper. Es war schön, ihn zu beobachten – doch schlug Réas Faszination unvermittelt in Beschämung um. Sie hatte den letztmöglichen Augenblick verpasst. Wie konnte sie sich jetzt noch bemerkbar machen? Zu simulieren, dass sie eben aufwache,

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