Der Drache am Himmel
liegen, rannte in die Läden und nach Hause, kochte und inszenierte diesmal pünktlich um sieben, was sie vor vier Tagen vergessen hatte: eine vorbildliche Familienmahlzeit im Pfarrhaus.
Severin redete wenig, Rosa fast nur mit Lilith und Maurice schwärmte von seiner Montage der Flüsterstimmen. Réa hatte ihm nämlich die Bänder anvertraut und ihn gebeten, ein paar Effekte auszuprobieren. »Es wirkt unglaublich intensiv, wenn sich die Stimmen überlagern. Hall braucht es gar nicht, Mama«, sagte er und zeigte ein irgendwie eingeweihtes Lächeln. Jedenfalls war ihr dieser Gesichtsausdruck neu. Sie dachte, dass ihn die Sinnsprüche wohl sehr berührt haben mussten.
»Das würde ich mir gern mal anhören«, war etwas von dem wenigen, was Severin bei diesem Essen von sich gab. Seltsamerweise erinnerte sich Réa beim Zähneputzen vor der Schlafenszeit genau an diese Bemerkung. Eigentlich nett, dachte sie, denn er hatte sich seit Langem nicht mehr für ihre Arbeit interessiert. Und es kam ihr in den Sinn, ihn für Dienstag um die Schließung des Hauptportals zu bitten, damit sie und der Regisseur bei der Begehung des Münsters ungestört blieben. Sie las noch etwas und als sie das Buch auf den Nachttisch zurücklegte, entdeckte sie einen Zettel – von Maurice. Er beantwortete ihre Karikatur mit einer eigenen. Ein Gitarrist mit Tentakeln wie die ihrer Malerin. Wild flogen Noten durch die Gegend. In einer Sprechblase stand: Ich dich auch . Am Rand unten hatte er zudem klein, gerade noch entzifferbar, gekritzelt: Schriftlich geht das noch. Mündlich bitte nicht mehr. Der Sohn!
Réa lachte über das grimmige Ausrufezeichen und schlief mit dem Gefühl zärtlicher Dankbarkeit ein.
Es war köstlich still. Zwei Gesangbücher als Kopfkissen untergeschoben, lag sie ausgestreckt auf einer Kirchenbank und lauschte. Dass die Ausdehnung eines Raumes einen Klang hat!, staunte sie. Sie konnte trotz geschlossener Augen spüren und sogar hören , wie weit hin das Kirchenschiff sich streckte und wie hoch die Gewölbe sich spannten. Shandar war zum Bahnhof gefahren, um den Regisseur abzuholen. In einer Viertelstunde würden sie da sein, wenn dieser Marthaler denn wirklich käme. Dass ihr die Stille noch eine Weile allein gehörte, nahm sie als Geschenk. Eigentlich war es der perfekte Augenblick und doch war er Severins wegen getrübt, der es ganz und gar überflüssig gefunden hatte, ihr den Schlüssel auszuhändigen. Es waren hässliche Worte gefallen. Nur Rosas Zureden war es zu verdanken, dass er schließlich doch nachgegeben hatte.
Weil etwas ihr über die Waden strich, blinzelte sie an sich herab. Es war nichts. Nur ein paar bunte Lichtflecken aus dem Petrusfenster zitterten auf ihren entblößten Schenkeln. Energisch zog sie sich den Rock zurecht. Sie schloss erneut die Augen und bemühte sich, ins Lauschen zurückzufinden. Vielleicht sollte ich Schrift an der Wand in radikaler Stille ausstellen, dachte sie. Braucht es überhaupt Stimmen? Bilder drängten sich ihr auf. Henrys reglose Schattengestalt vor der weißen Wand in ihrem Atelier. Eine Hand auf der schweißfeuchten Haut eines Schenkels. Nah und groß Henrys sich öffnende Lippen. In einem Traum hatte er sie geküsst, geküsst … und im Erwachen hatte sie gedacht, dass sie nie einen unwilliger, spröder Küssenden als Severin gekannt habe – ging es darum? War ihre erotische Sehnsucht im Grunde nur die Lust auf ungestüme Küsse? Auf betäubende, sich selbst genügende, nie endende Küsse? Réa öffnete die Augen, setzte sich auf und empfand ein ehrfürchtiges Staunen ob der plötzlichen Lichtflut. Vielleicht gibt es vor geschlossenen Augen gar kein Licht? Sie blinzelte und blinzelte und achtete auf die Wirkung und dachte, niemand könne sich je sicher sein. Wahrscheinlich war Licht eine Täuschung der Augen; war Stille bloß der Nachhall jenes ohrenbetäubenden Urknalls, mit dem das Leben sich in Gang gebracht hatte. Aus der Sakristei kamen dunkle Männerstimmen und Réa eilte ihnen entgegen. Man begrüßte sich; die Stimmung wurde sofort sehr ausgelassen. Das lag an den beiden jungen Männern, die Regisseur Marthaler mitgebracht hatte, einem Tontechniker und einem Bühnenbildner. Tom und Sascha waren vermutlich ein Paar, bestimmt aber so witzig, wie es Réa selten begegnet war. Der Regisseur, kraushaarig, klein und wirbelig, war ihre Narreteien wohl gewöhnt, doch sie und Shandar kamen aus dem Lachen kaum heraus. So viel Gelächter hatte dieses Kirchenschiff in
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