Der Drache am Himmel
liebsten hätte Réa der Alten die Zeitung weggerissen. »Und das hast du einfach so gehört? Von wem denn?«
»Von Barbara Lauterbach. Sie kam mir heute früh am See entgegen, als eifrige Joggerin.«
Henrys Frau! Réa verspürte einen Stich von Eifersucht. Barbara konnte es ja nur von Henry haben. Also erzählte Henry seiner Frau brühwarm, was sie gemeinsam erlebten! Alles? Waren ihm ihre Begegnungen nicht so viel wert, dass er etwas für sich allein bewahren wollte? Gab es denn nichts, was nur sie beide anging? Dabei war sie mittlerweile zu der Ansicht gelangt, dass er und Barbara gar keine besonders innige Ehe führten. Zwar verhielt sich Henry seiner Frau gegenüber unbedingt loyal. Aber eine gewisse Enttäuschung hatte sie herauszuhören geglaubt. Er kann nicht wirklich glücklich mit ihr sein, dachte sie.
»Triffst du Barbara häufiger?« Mit neutraler Stimme versuchte Réa, ihre Kränkung zu überspielen.
»Wie es sich so ergibt. Aber ich werd nicht recht schlau aus ihr. Warum tut sie sich bloß einen so lackierten Mann an?«
»He!«, entfuhr es Réa, weil sie Rosa diese abschätzige Beurteilung nicht durchgehen lassen wollte. Gerade war ihr nämlich eine schmeichelhafte Erklärung für Henrys Verhalten eingefallen: Er mochte viel und belanglos von ihren Begegnungen berichten, damit Barbara keinen Verdacht schöpfen konnte. Dass Mama Rosa Henry offenbar nicht mochte, irritierte sie im Übrigen …
»Ah, gut, du hast die Liste eingesteckt«, sagte Rosa. »Da kommt viel Arbeit auf dich zu. Und alles auf einmal. Das Leben hat so gar kein Talent für Balance. Entweder übertreibt es oder es untertreibt. Es passt recht gut zu uns Menschen.«
Für solche Weisheiten war Réa der Tag noch zu jung. Deshalb gab sie Rosa mit ein paar Floskeln recht und floh. Im Schlafzimmer warf sie sich aufs Bett. Es war noch warm. Henry kam ihr in den Sinn. Taktisch war sein Verhalten natürlich ganz geschickt. Er wollte Barbara keinen Grund für Eifersucht bieten. Zweifellos verschaffte er sich so etwas Freiraum. Ihre Gespräche hatte er bestimmt genauso genossen wie sie selbst. Das hatte sie doch gespürt. Er stand ihr bei den Sans Papiers zur Seite, weil es ihm Freude machte; und weil sie sich auf diese Weise ein paar gemeinsame Stunden verschaffen konnten. Es war doch kein Zufall, dass Henry die Mikrofone selbst vorbeigebracht hatte. Das war doch alles einleuchtend – schade nur, dass eine zweite, widerspenstige Stimme ihre ganze schöne Psychologie zunichtemachte: Lächerlich, was ich mir da zurechtlege. Ich will nur mein schlechtes Gewissen beruhigen. Wie fahrlässig, mich so treiben zu lassen. Was belüge ich mich! Severin hat das nicht verdient …
Sie zog sich an und machte sich fürs Atelier fertig. An Severins Tür vorbeieilend rief sie laut, dass sie gegen sieben zurück sei. Sie werde einkaufen und kochen. Es kam keine Antwort. Für Maurice hinterlegte sie die gleiche Information auf einem Zettel in der Eingangshalle. Sie verließ das Haus, kehrte aber noch einmal zurück, um ihren Zettel mit einer kleinen Karikatur zu versehen: sie als Malerin. Eine Unzahl von Armen wie Tentakel, daran Hände mit Pinseln. Es sprühen die Farb- und Schweißtropfen. In einem Denkwölkchen über dem Kopf steht Einen schönen Tag, Maurice! Ich liebe dich! Réa.
Sie nahm das Fahrrad und stand kurz darauf im Atelier und vor ihrer Wand. Die Schrift war wirklich kaum erkennbar. Aber die rote Magie des Staubes würde sie hervorlocken. Kleine Kärtchen mit geflügelten Worten, die sie noch nicht verwendet hatte, lagen bei den Gipskübeln. Für einige Sinnsprüche war noch Platz. Am besten, sie träfe die Wahl jetzt gleich. Mit Musik? Aber da hatte sie bereits das Tonband zurückgespult und schon flüsterte die vergangene Nacht durch den Raum. Es klang wunderbar!
Sie blätterte in ihrem Stapel mit Erkenntnissen. Von Cicero war Gedanken sind frei, von Nietzsche Wollen befreit. Aus Rumänien stammte Setz dich nicht mit dem Hintern in zwei Kähne. Dieses Kärtchen zerknüllte sie als unbrauchbar. Aber schön war aus Antonius und Cleopatra : Ihr Götter leiht uns Fehler, dass wir Menschen seien. Und Hebbel hatte entdeckt: Leidenschaft begeht keine Sünde, nur Kälte …
Die Weisheiten, denen sie bei Rosa entflohen war, hatten sie nun also endgültig eingeholt. Bereit dafür war sie aber auch jetzt noch nicht und wurde immer unschlüssiger. Dabei war für Zaudern keine Zeit mehr und die unterbliebenen Anrufe mussten unbedingt heute erledigt
Weitere Kostenlose Bücher