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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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waren die Widersprüche nur ein Trick der Psyche, doch noch etwas interessanten Stoff bereitzustellen … Sie schüttelte den Kopf und sagte harsch: »Ich mache uns einen Tee.«
    Aus dem Kurzbesuch wurden zwei Stunden. Carla fühlte sich erleichtert, endlich jemandem ihre bedrückenden Vermutungen anvertraut zu haben. Gemeinsam ordneten sie die Fakten – Maske, Schrank, Reisen, Rückkehr und die Vorfälle, über die Zeitungen berichtet hatten. Der mittlerweile als »neurotischer Kauz« beschriebene Maskierte trat weiterhin auf. Carla hatte die Zeitungsausschnitte gesammelt und mitgebracht. Zweimal war Aldo aus Ghana zurückgekehrt, beide Male fehlte am Folgetag die Maske und zweimal war kurz danach ein Vorfall gemeldet worden. Statistisch war das dünn. Wenn es an zwei Sonntagen regne und die Hauskatze jeweils am Dienstag darauf eine Maus anschleppe, beweise das auch keinen Zusammenhang, wandte Réa ein.
    »Und wenn es viermal geschieht?«
    »Dann beweist das höchstens, dass deine Katze bei Regen nicht gern auf die Jagd geht.«
    »Oder dass sie aus Ghana kommt«, hielt Carla mit. Weil Réa missbilligend das Gesicht verzog, hängte sie an: »Nein, keine Sorge. Das war keine Anspielung auf Aldo. Wenn ich so mit dir spreche, finde ich ja auch, dass mein Verdacht nur ein Hirngespinst ist.« Réa hatte aber die Anspielung auf ihre Sans Papiers bezogen. Der Tee war mittlerweile kalt und ungenießbar geworden. Dafür hatte sich Carlas Stimmung aufgehellt.
    Es war auch alles gesagt. Weil sie bald aufbrechen wollte, drapierte Carla ihren Schal neu. »Meine Ängste sind zu neunzig Prozent verflogen«, seufzte sie. Und Réa musste an Widersprüche und andere Tricks der Psyche denken und daran, dass sie beide das wirklich Erschreckende mutwillig ausgeklammert hatten: Carla hatte Aldo als Täter in Betracht gezogen! Dass ihr ein Unbehagen geblieben war, merkte Réa erst, als ihr Gast schon gegangen war und sie die Teekanne ausspülte. Der pampige Teematsch machte sie schaudern. Carla hatte es für möglich gehalten …
    Réa holte mit Knopfdruck auf den Recorder das Flüstern zurück und machte sich wieder an die Zitate. Zwei oder drei musste sie unbedingt noch heute auf die Wand spachteln. Die Telefonate könnte sie morgen noch erledigen, dann aber bestimmt! Nachts würde sie die drei verschiedenen Tonaufnahmen auf Maurice’ neuen Power-Mac überspielen; er hatte sie mit einer rührenden Einführung beglückt und überfordert … Hoffentlich ist ihm meine Liebeserklärung auf dem Zettel nicht peinlich. Seit er Lilith kennt, ist er da heikel. Henry hatte ihre Aufnahmen als Tonpoesie bezeichnet – ob die Montage jenen geheimnisvollen Effekt ergäbe, der ihr vorschwebte? Ob sie einen Hall darunterlegen sollte? Vielleicht wären unterschiedliche Stimmen wirksamer gewesen. Eine dunkle Stimme beigemischt ergäbe mehr Raumtiefe. Eine tiefe Stimme wie die von Henry. Dass sie daran nicht gedacht hatte! Eine Aufnahmesession gemeinsam mit ihm wäre schön gewesen. Sie konnte sich jede Stimme als Farbe vorstellen; seine erschien ihr als dunkles Braun. Ihre eigene Stimme war orangefarben. Carlas gelb. Und Severins? Grau und brüchig. Grau mit schwarzen Sprengseln. »Grrrün – grrrau …«, gurrte sie laut in das Flüstern hinein, das das Band noch immer wiedergab, »orrrange – rrrot – rrrabenschwarrrz.« Die Wirkung war verblüffend: grüne, graue, rote, orangefarbene Kugeln flitzten durch den Raum, den geisterhaften Stimmenschleifen hinterher. Hingerissen und erheitert lobte Réa ihre Entdeckung mit grabestiefer Stimme: »Grrroßarrrtig … grrrandios …«
    Das plötzliche Gefühl, jemand höre ihr zu, ließ sie aufschrecken und das Tonband abstellen. Es war bestürzend still im Atelier. Und natürlich war niemand da. »Hallo? Herr Geist, hören Sie mich?«, rief sie halb neckisch, halb bang. Aber die Stille war vollkommen. Also war sie auf sich allein angewiesen. Sie stampfte mit dem Fuß auf und rief dem Hall nach: »Sobald es dunkel wird, machen wir noch eine Aufnahme. Ich werde mit verruchter Stimme sprechen. Niemand da also?«
    Jetzt wollte sie sich keine Spielereien mehr leisten. Mit Schälchen und Spachtel erstieg sie grimmig die Leiter und begann zu arbeiten. Sofort fand sie ihren Rhythmus. Ein heimlicher Groll, den sie auf Carlas Besuch schob, trieb sie an. Bogen an Bogen, Ecke um Ecke. Weiß auf Weiß. Die Euphorie der ersten Tage stellte sich wieder ein. Sie spürte, dass sie mit diesem Werk eine neue Richtung

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