Der Drache am Himmel
schien ihr feige. Was aber, wenn er plötzlich verschwände? Diese Wendung wäre noch schlimmer, als entdeckt zu werden. Aber bestimmt sorgte sie sich wegen nichts. Er musste ihr Atmen doch gehört haben. Vermutlich wusste er längst, dass sie sich hier irgendwo im Raum verbarg, ihn mit Blicken umfangen hielt. Wahrscheinlich genoss er es sogar. Sie hatten einfach stillschweigend eine Übereinkunft getroffen: dass sie so lange wie möglich aushalten wollten, um in einem desto lustvolleren Wirbel unterzugehen. Nicht mehr lange und Henry wird sich umdrehen. Sie wird aufstehen und das Tuch vom Körper gleiten lassen. Er wird sie ruhig betrachten, ohne näherzukommen. Dann wird er lächeln. Er wird wissen, was sich ihrer Nacktheit geziemt. Seine Jacke wird er abstreifen, das Hemd, die Hose … Dann erst werden sie aufeinander zugehen.
Er hat sich bewegt! Unvermittelt hält er die Kerze in der Hand. Vor der weißen Fläche schwenkt er sie hin und her und auf und ab. Es ist offensichtlich, dass er die Inschriften hervorlocken will. Und tatsächlich flitzen kleine Schatten über die Wand. Wie er zu runden Schwüngen übergeht, geraten auch die Schattensplitter ins Kreisen. Ein leises Schnauben vernimmt Réa und dann versteht sie, dass er »schön« sagt. Wenn er schön wiederholt, denkt sie, ist es ein Zeichen und Henry sagt nochmals »schön« und Réa wagt es: »Und du bist ein schöner Mann!«
Unnötig ihre Befürchtung, sie hätte ihm einen Schreck eingejagt. Henry zuckt zwar zusammen, lacht aber. Mit einem Blick zur Seite, denn er hat sie falsch geortet, ruft er: »Längst nicht so schön wie das hier.«
»Hier bin ich!« Noch verharrt sie in ihrer Ecke, weil ihr ausgemacht scheint, dass sie gleichzeitig aufeinander zugehen werden.
»Zeig dich! Komplimente aus dem Dunkeln gelten nicht!« Er schwenkt die Kerze in ihre Richtung und entdeckt sie. Im Zwielicht kann er gerade noch erkennen, dass sie sich einen Umhang übergeworfen hat.
»Habe ich dich geweckt?«
»Das wäre schön«, sagt Réa, die nicht daran zweifelt, dass er ihre Blöße wahrgenommen hat. Er weiß, dass ich ihn mit Haut und Haar … Er weiß, wie es um uns beide steht, denkt sie und dass er nicht näher kommt, wie sie sich das vorgestellt hat, spielt doch keine Rolle. Eine Sekunde nur zögert sie, dann löst sie sich aus ihrer Ecke. Sie läuft, sie fliegt ihm entgegen, jedenfalls klafft das Tuch, das sie vor der Brust zusammenhält, sofort auf. Gerade, dass Henry den nackten Bauch und das Schamhaar erkennt, als sie das Tuch ganz fallen lässt und ihn umschlingt. Überrumpelt lässt er ihre ersten Küsse geschehen. Und zu kurz ist die Unterbrechung, um zu Sinnen zu kommen, als sie in seinen Mund stöhnt: »Halt mich fest, Henry, einfach fest. Du wusstest es ja«, um ihn noch verlangender zu küssen, ihre Hände hart an seinem Hinterkopf. Da erst kann er sich frei machen. Um den Abstand zu wahren, packt er sie an den Schultern: »Hör zu, Réa, hör mir zu!«
»Küss mich einfach. Lieb mich. Ich will mit dir schlafen.«
»Das kann nicht sein. Hörst du mich überhaupt?«
»Niemand muss es wissen.«
»Darum geht es nicht. Es kann nicht sein, weil es nur Schmerz bringt.« Abrupt lässt er ihre Schultern los, um den Stoff vom Boden aufzuheben und ihn Réa um Schultern und Brüste zu werfen: »Bitte! Halt das fest! Sei fair und halt das fest.«
Als wollte er sie noch weiter ernüchtern, macht er eine entschiedene Geste zum Mäppchen auf der Leiter. »Das musst du studieren. Es ist die Skizze des Kreideapparats für den Hexenfilm.«
Réa ist seiner Geste nicht gefolgt. Sie schaut an sich herab und drapiert das Tuch um, damit auch Hüften und Schenkel verhüllt sind. Eine Gipskruste ritzt ihre Schulter. Ohne den Blick zu heben, sagt sie leise: »Das ist schmerzhaft, das, nur das!«
»Das geht vorbei«, sagt Henry, »du sollst nichts bereuen müssen.«
»Wie edel«, flüstert sie.
»Ich wollte dich nicht beschämen. Und ich möchte auch nicht, dass sich zwischen uns etwas ändert.«
Jetzt sieht sie ihn an. »Hör auf. Ich brauche keinen Trost. Ich brauche einen Mann, der mich begehrt.«
»Darum geht es doch nicht. Du bist eine wunderbare Frau.«
»Wunderbar! In diesem Stofffetzen! Wie eine Bettlerin fühle ich mich.«
»Du solltest dich aber wie eine große Künstlerin fühlen. Mit diesem Werk wirst du Furore machen.« Henry hat sich ein paar Schritte zurückgezogen, den Ellbogen auf eine Sprosse gestützt, die Fläche im Blick. »Es ist
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