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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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Flüchtlinge verloren, ha, von wegen! Natürlich haben sie ihr schwarzes Dingsbums ins Asyl mitgenommen. Man war ja so besorgt um diese armen Schweine. Genau! Besorg es mir! Cute devil. So treibt sich Severin in die Wut und durch die Nacht. Die Schreie, mit denen sie den Kerl anfeuerte! Wieder und wieder bringt er sich die Obszönitäten zu Gehör. Ja, er muss alle nachsprechen und auspressen. Sie sollen ihre Schamlosigkeit ganz und gar preisgeben. Doch je länger er daran kaut und schmeckt, desto fader werden sie. Er schrickt auf. Da war etwas! Ein Warnlicht im Dunst, ein Klarblick im Wahn. Zu kurz, um erkannt und begriffen zu werden. Was er noch zu fassen kriegt, ist bloß eine Ahnung.
    Severin bleibt stehen. Er überlegt, bemüht sich um Konzentration. So nah ist die Erkenntnis – aber über was oder wen? Zögerlich setzt er sich wieder in Gang. Halblaut versucht er verschiedene Anläufe: »Wenn es wirklich Henry gewesen wäre, dann … Dieser schwarze Kerl geht mich eigentlich nichts an. Doch wenn es Henry gewesen wäre, hätte ich eingegriffen …« Nichts beruhigt ihn. Manchmal hat er Rückfälle in grelle Wut. Dann gerät er wieder ins Hasten und Räsonieren. Aber immer eindringlicher meldet sich das Verlangen, die eigentliche Erkenntnis zu finden. »Ich bin nicht wirklich verletzt. Beleidigt vielleicht, weil sie diesen geilen Schmarotzer an sich rangelassen hat …«
    Er kommt zur Haustür. Weiß, dass niemand da ist. Aufschließen. An der Garderobe vorbei die Treppe hochsteigen. Zögern vor seinem Arbeitszimmer. Alles nochmals durchgehen. Schließlich findet er sich im zweiten Stock im Schlafzimmer wieder. Auf dem Bett liegen die drei Kassetten, dabei ein Zettel von Maurice. Den ignoriert er, nimmt aber die Kassetten an sich. Kaum liegen sie in seiner Hand, spürt er, wie erregt er ist. Und in diesem Augenblick enthüllt sich die gesuchte Erkenntnis. Gnadenlos im Fieber, denkt er und flüstert es: »Gnadenlos hat es mich wieder, mein dunkles Jagdfieber.«
    Seit er die beiden im Kirchenschiff beobachtet hat, ist er infiziert. Dabei hat er sich immun geglaubt. Seit Jahren ist er immun. Seit zwölf Jahren ist er nie mehr losgezogen. Jetzt hat ihn dieser monströse, wunderbare Wahn wieder, der ihn einst durch verdorbene Gärten trieb. Er kann seine Atemstöße wieder hören. Heiß staut sich die Luft hinter der Maske. Schweißtreibend ist die geduckte Haltung, mit der er zu den Häusern vordringt. Dort vorn hängt ein Fenster in der Nacht. Schon im Anschleichen ist viel Lust. Meistens gibt es nicht viel her. Also muss er weiter. Auch das Suchen ist erregend. Man weiß nie. Das gerade macht es aus. Der Übergang vom Drang zum Zwang wird ohne Vorwarnung eintreten. Der Auslöser kann ein Bild hinter Scheiben, kann ein Ereignis draußen auf seinem Weg sein. Im Freien ist es komplizierter. Da muss vieles stimmen, damit er sich vorwagt. Aber dafür hat er seinen Jagdinstinkt. Auf fünfzig Meter kann er die geeigneten Wesen an Bewegung und Haltung identifizieren. Und das Gelände muss ihn schützen. Und natürlich braucht er seine Zeit, bis er bereit ist. Den dritten Kräuterschnaps hat er schon intus, als er an seinem Schreibtisch das Tonbandgerät in Gang setzt. Außer Schritten im Hintergrund ist nichts zu hören: Tschagg-tschagg-tschagg. Minutenlang dauert das an. Er schenkt sich nach und registriert mit Genugtuung, wie brünstig es aus dem Flaschenhals gluckert. Wieder die Schritte: Tschagg-tschagg-tschagg. Warum hatte Réa ihre Schritte aufgenommen? Um eine Trance zu erzeugen? Vielleicht war es die Einladung mitzumachen? Also steht er auf. Taschagg-tschagg-tschagg. Gar nicht so einfach, im gleichen Rhythmus mitzuschreiten. Der Raum hier ist zu klein und überall stehen die Möbel im Weg. Er öffnet das Fenster zur Terrasse, um den Parcours zu vergrößern. Geht hinaus und ist beim Eintreten enttäuscht, dass er den Gleichschritt wieder verloren hat. Auch bei weiteren Runden kommt ihm der Takt abhanden. Schließlich bleibt er auf der Terrasse stehen. Die Nacht ist lau wie selten zu dieser Jahreszeit. Natürlich ist das Bild noch da: Die beiden Leiber sind noch genauso nackt. Es könnte Regen geben. Aber sie treiben es miteinander wie ferngesteuerte Puppen. Sogar das Eisengeländer ist warm. Jemand hat ihnen die Lust abgesaugt. Das ist ihr Pech. Ihnen bleibt nur die stupide Gymnastik. Die wirkliche Erregung gebührt dem, der zuschaut – Severin stemmt die gestreckten Arme aufs Geländer wie der Redner am Pult.

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