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Der Drache am Himmel

Der Drache am Himmel

Titel: Der Drache am Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Sommer
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Jahrhunderten nicht erfahren.
    Unter der Kanzel stehend, empörte sich Sascha: Was sich der Architekt bloß gedacht habe! Das Kabäuschen für die Souffleuse so hoch und exponiert zu platzieren sei extrem gedankenlos! Überhaupt sei der ganze Raum fürs Theater völlig ungeeignet. Dabei hätte man ihm doch glaubwürdig versichert, Religion sei ein Riesentheater …
    »Noch viel schlimmer ist dieser Dauerhall, Pater-Noster Sascha! Kannst du nichts gegen machen. Sie haben zwar ein Monsterschaltpult, aber keine Regler dran!«, rief Tom vom wuchtigen Altartisch her.
    »Du ungebildetes Mensch du! Das ist der heilige Opfertisch, wo sie sündige Schwule dem Herrn opfern! Tue rechtzeitig Buße!«
    Trotz allem Herumalbern prüften sie professionell Ton- und Sichtverhältnisse, besprachen den Einbau einer Bühne und die Montage der Beleuchtung. Sie durchstreiften Seitenkapellen und Empore, bis Sascha die steile Wendeltreppe zur Michaelskapelle über dem Eingang entdeckte.
    »Ein direkter Zugang in den Himmel?«, rief er.
    »Für dich auf immer versperrt«, bedauerte Tom.
    »Das wollen wir doch mal sehen.« Er entschwand und kam enttäuscht zurück. »Hübsche Pforte da oben, aber zu! Käme man hinein, könnte man von dort aus mit Scheinwerfern die gesamte Kirche …«
    »… zur Erleuchtung bringen!«, unterbrach ihn Tom. »Bloß dass du nie im Leben so viele Lampen auftreiben kannst.«
    Réa mischte sich ein: Das werde nicht möglich sein. Dieser Raum sei von alters her sogar für den Küster tabu. Nur der Pfarrer habe einen Schlüssel. »Früher, sagt man, hat von dort oben ein besonders frommer Mönch darauf geachtet, dass sich kein Satan in den Gottesdienst schleicht!«
    »Echt wahr? Historisch?«, fragte Marthaler.
    Réa nickte: »Wahr und historisch! Infrage kamen nur Mönche oder Priester mit unerschütterlichem Glauben. Sie mussten auch den abgefeimtesten Versuchungen widerstehen können. Der Teufel durfte nicht die geringste Chance haben! Wenn er es geschafft hätte, dem Prediger das Wort im Mund herumzudrehen … Man darf es sich gar nicht vorstellen!«
    »Mmh, gefällt mir«, sagte Marthaler vieldeutig.
    »Den Hall runterbringen wird schwierig«, rief Tom. »Dürfen wir ein paar Wände einreißen?«
    Draußen! Auf dem Platz! Die Idee war plötzlich da: ein großes Zelt draußen auf dem Münsterplatz. Man ging hinaus. Marthaler fand die Lösung optimal und Shandar war begeistert, weil er ein halbes Jahr lang im Zirkus Artisti beim Zeltaufbau geholfen hatte. »Unser schöner Zeltmeister« nannten ihn Tom und Sascha von da an schäkernd und meinten es durchaus bewundernd. Diese Schmeichelei veränderte Réas Blick auf Shandar. Natürlich hatte sie ihn als schlank und muskulös wahrgenommen. Aber plötzlich fielen ihr auch die Reize seines Gesichts und seiner Mimik auf. Er war Mischling. Die indische Mutter besänftigt den afrikanischen Vater, ging ihr durch den Kopf. Die Formulierung erheiterte sie. Besonders besänftigend war die Wirkung auf Frauen wohl nicht! Sie gingen zum Essen, diskutierten bei Spaghetti, kamen zurück und wurden sich einig, wie es weitergehen sollte: Der Text des Stückes musste rasch fertig werden. Es beruhte auf den authentischen Schicksalen einiger Sans Papiers und auf Reportagen des SPIEGEL über die verbrecherische Schleusermafia. Réas Entwürfe hatten Marthaler aufgewühlt: »Das ist eine gute, schreckliche Basis … Den Tutsijungen, den gibt es wirklich? Der hat das so erlebt … überlebt? Wie sie die lepröse Mutter im Boot … Kaum zu ertragen … Aber nicht alles muss ausgesprochen werden. Theater erzählt auch in Bildern …«
    Die Genehmigung war dringend, das Geld noch nicht gesichert. Weckers Benefizkonzert sollte der Startschuss zur landesweiten Sammelaktion sein. Die Gewerkschaft hatte schon Zusagen aus über zehn Städten. Die fünf erstellten Datenpläne, Listen mit Personen, die man anfragen musste … Gegen halb sieben kam der Küster auf seinem letzten Rundgang vorbei und bat sie, nicht zu vergessen, den Schlüssel in seinen Briefkasten zu werfen. Nach acht Uhr stieg der Regisseur von der Kanzel, die er als Stehpult auserkoren hatte. Die anderen hatten ihre Notizen unter ihm gemacht, als winzige, verstreute Gemeinde in den Bänken. Bis zum nächsten Treffen in drei Wochen müsste geklärt sein, ob, wie und wer … Shandars Angebot, sie zum Bahnhof zu fahren, lehnten die drei ab. Sie wollten zu Fuß zurück, um noch etwas »weltliche Luft zu schnuppern«, wie Marthaler

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