Der Drachenbeinthron
gurgelnde Wasser und sah am anderen Ufer eine Gestalt am Flussrand stehen: eine ganz in Grau gekleidete Frau, deren langes, glattes Haar die Schläfen beschattete; in den Armen hielt sie etwas, das sie eng an sich drückte. Als sie zu ihm aufsah, merkte er, dass sie weinte. Es war ihm, als kenne er sie.
»Wer bist du?«, rief er. Kaum waren die Worte heraus, erstarb seine Stimme, verschlungen vom feuchten Zischen des Flusses.
Die Frau starrte ihn mit ihren großen, dunklen Augen an, als wollte sie sich jeden einzelnen seiner Gesichtszüge einprägen. Endlich sprach sie.
»Seoman.« Die Worte kamen wie aus einem langen Gang, matt und hohl. »Warum bist du nicht zu mir gekommen, mein Sohn? Der Wind ist kalt, und ich warte schon so lange.«
»Mutter?« Simon fühlte eine tiefe Traurigkeit. Das sanfte Rauschen des Wassers schien überall zu sein. Die Frau fuhr fort.
»Wir haben uns so lange nicht gesehen, mein einziges Kind. Warum kommst du nicht zu mir? Warum kommst du nicht und trocknest die Tränen deiner Mutter? Der Wind ist kalt, aber der Fluss ist warm und mild. Komm … willst du nicht herüberkommen zu mir?« Sie streckte die Arme aus; der Mund unter den schwarzen Augen öffnete sich zu einem Lächeln. Simon wollte auf sie zugehen, auf seine verlorene Mutter, die nach ihm rief, stieg das weiche Flussufer hinunter zum lachenden schwarzen Fluss. Ihre Arme waren geöffnet, für ihn … für ihren Sohn …
Und dann sah Simon, was sie in den Armen gewiegt hatte und was jetzt von ihrer ausgestreckten Hand baumelte – es war eine Puppe … eine Puppe aus Schilf und Blättern und geflochtenen Grashalmen. Aber die Puppe war schwarz geworden; die verwelkten Blätter rollten sich von den Stielen zurück – und plötzlich begriff Simon, dass nichts Lebendes diesen Fluss in das Land der Dämmerung überqueren konnte. Er blieb am Rand des Wassers stehen und blickte hinab.
Unten im tintenschwarzen Wasser glomm ein schwaches Licht; noch während er es betrachtete, stieg es nach oben und verwandelte sich in drei schlanke, glänzende Gestalten. Das Geräusch des Flusses veränderte sich, wurde zu einer Art prickelnder, unirdischer Musik. Das Wasser hüpfte und brodelte, sodass die wahre Gestalt der drei Dinge nicht zu erkennen war, aber Simon hatte das Gefühl, wenn er es wünschte, könnte er hinabgreifen und sie einfach berühren …
»Seoman!«, rief seine Mutter wieder. Er schaute auf und sah, dass sie sich entfernt hatte, schnell kleiner wurde, als sei ihr graues Land ein Sturzbach, der sie von ihm fortriss. Sie hatte ihre Arme weit ausgebreitet, und ihre Stimme war voll bebender Einsamkeit, voller Sehnsucht der Kälte nach der Wärme und der Finsternis nach dem Licht.
»Simon … Simon!« Es war ein verzweifelter Klageruf.
Der Junge saß stocksteif im Gras, im Schoß des uralten Steinhügels. Noch immer stand der Mond hoch am Himmel, aber die Nacht war kalt geworden. Nebelschwaden liebkosten die zerbrochenen Steine, und Simon saß da, und sein Herz klopfte rasend schnell.
»Simon …« Es war ein flüsternder Ruf aus der Schwärze weiter hinten. Tatsächlich, da war eine graue Gestalt mit der Stimme einer Frau, die von der nebelbedeckten Begräbnisstätte, durch die er gekommen war, leise nach ihm rief – nur eine winzige, taumelnde graue Gestalt, ein fernes Flackern im Nebel, der dick am Boden hing, dort zwischen den Grabstätten. Aber als Simon sie sah, war ihm, als müsste ihm das Herz in der Brust zerspringen. Er rannte quer über die Grashügel davon, rannte, als hetze ihn der Teufel selbst mit gierigen Händen. Die dunkle Masse des Thisterborgs stand am verhüllten Horizont, auf allen Seiten umgaben ihn die Grashügel, und Simon rannte und rannte und rannte …
Tausend jagende Herzschläge später wurde er endlich langsamer und verfiel in einen unregelmäßigen Gehschritt. Er hätte auch nicht weiterrennen können, wenn der Erzdämon tatsächlich hinter ihm her gewesen wäre; er war erschöpft, humpelte und verspürte einen schrecklichen Hunger. Furcht und Verwirrung hingen an ihm wieein Mantel aus Ketten; der Traum hatte ihn so verängstigt, dass er sich schwächer fühlte als vor seinem Schlaf.
Mühselig weitertrottend, die Burg immer im Rücken, fühlte Simon, wie die Erinnerungen an bessere Zeiten sich aufzulösen begannen und nur ein paar ganz dünne Fäden übrigließen, die ihn noch mit der Welt von Sonnenschein, Ordnung und Sicherheit verbanden.
Wie war es damals, als ich so auf dem Heuboden
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