Der Drachenbeinthron
das Volk der Sithi hier schon ungezählte Jahre, ehe der Mensch erschien. Dies ist der erste Ort in Osten Ard, der das Werk gestaltender Hände war. Es ist die mächtigste Stelle des Landes, der Ort, der die Wasserwege beherrscht und über das beste Ackerland gebietet. Der Hochhorst und seine Vorgänger, die noch älteren Festungen, die unter uns begraben liegen, haben hier gestanden, lange bevor die Erinnerung derMenschen einsetzt. Als die Rimmersmänner kamen, war diese Stätte alt, uralt.«
Als die Ungeheuerlichkeit dieser Erklärung in Simons Kopf einzusickern begann, wurde ihm schwindlig. Die alte Burg schien ihm plötzlich bedrückend, ihre Felsenmauern kamen ihm wie ein Käfig vor. Er schauderte und blickte sich hastig um, als griffe jetzt, in dieser Sekunde, etwas Uraltes, Eifersüchtiges mit staubigen Händen nach ihm.
Morgenes lachte fröhlich – ein sehr junges Lachen für einen so alten Mann – und hüpfte vom Tisch herunter. Die Fackeln schienen ein wenig heller zu glühen. »Fürchte dich nicht, Simon. Ich denke – und wer, wenn nicht ich, sollte es wissen –, dass du den Zauber der Sithi nicht zu fürchten brauchst. Heutzutage nicht mehr. Die Burg ist vielfach verändert, Stein wurde auf Stein gesetzt und jede Elle von hundert Priestern kräftig gesegnet. Gewiss, Judith und ihre Küchenhelfer drehen sich vielleicht manchmal um und stellen fest, dass ein Teller mit Kuchen fehlt, aber ich glaube, das kann man mit guten Gründen eher gewissen jungen Männer zuschreiben als Kobolden …«
Eine kurze Folge von Klopftönen an der Zimmertür unterbrach den Doktor. »Wer ist da?«, rief er.
»Ich bin’s«, erwiderte eine trübselige Stimme. Es folgte eine lange Pause. »Ich, Inch«, beendete die Stimme ihre Erklärung.
»Bei Anaxos’ Gebeinen«, fluchte der Doktor, der exotische Ausdrücke bevorzugte. »Dann mach die Tür auf … ich bin zu alt, um herumzurennen und Narren zu bedienen!«
Die Tür schwang nach innen. Der vom Glühen des inneren Korridors eingerahmte Mann war groß, ließ aber den Kopf derart hängen und den Körper vornüberkippen, dass man es ihm nicht auf den ersten Blick ansah. Unmittelbar über seinem Brustbein schwebte ein rundes, leeres Gesicht wie ein Mond, auf dem ein Strohdach aus stachligem, schwarzem Haar thronte, das man mit einem stumpfen Messer ungeschickt geschnitten hatte.
»Tut mit leid, wenn ich Euch gestört habe, Doktor, aber … aber Ihr habt gesagt, ›komm früh‹, sagtet Ihr nicht so?« Die Stimme war dick und zähflüssig wie triefendes Fett.
Morgenes stieß einen ärgerlichen Pfiff aus und zupfte an einer Strähne seines weißen Haares. »Ja, das habe ich, aber ich sagte, früh nach der Essenszeit, die noch gar nicht gekommen ist. Nun, es hat keinen Sinn, dich jetzt wieder wegzuschicken. Simon, kennst du Inch, meinen Gehilfen?«
Simon nickte höflich. Er hatte den Mann ein paarmal gesehen; Morgenes ließ ihn manchmal abends kommen, wenn er Hilfe brauchte, wohl beim Heben schwerer Gegenstände. Anderes kam kaum in Frage, denn Inch machte den Eindruck, als könne man sich nicht einmal darauf verlassen, dass er vor dem Schlafengehen das Feuer auspinkelte.
»Als dann, junger Mann, ich fürchte, das setzt meiner Geschwätzigkeit für heute ein Ende«, bemerkte der Doktor. »Da Inch nun einmal hier ist, muss ich auch Gebrauch von ihm machen. Komm bald wieder, dann erzähle ich dir mehr – wenn du willst.«
»Bestimmt.« Simon nickte Inch noch einmal zu, der die Augen nach ihm rollte wie eine Kuh, und war schon an der Tür, als ihm flammend eine jähe Vision durch den Kopf schoss: ein klares Bild von Rachels Besen, der da lag, wo er ihn fallen gelassen hatte, im Gras am Burggraben, wie der Leichnam eines seltsamen Wasservogels.
Mondkalb!
Er würde gar nichts sagen. Er würde auf dem Rückweg den Besen mitnehmen und dem Drachen sagen, es sei alles erledigt. Sie hatte so viel um die Ohren und redete auch nur selten mit dem Doktor, obwohl sie und er zu den ältesten Bewohnern der Burg gehörten. Ja, das war offensichtlich der beste Plan.
Ohne zu verstehen, warum, drehte Simon sich um. Der kleine Mann inspizierte gerade, über den Tisch gebeugt, eine Schriftrolle, während Inch hinter ihm stand und nur in die Luft stierte.
»Doktor Morgenes …«
Beim Klang seines Namens sah der alte Mann auf und blinzelte. Er schien erstaunt, dass Simon sich noch im Zimmer befand, ganz wie dieser selbst darüber erstaunt war.
»Doktor, ich bin ein Dummkopf.«
Morgenes
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