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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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zwang Rachel sanft die zusammengebissenen, zitternden Kiefer der Frau auf dem Bett auseinander und goss ihr ein wenig von der Flüssigkeit in den Mund. Unter den Geruch von Schweiß und Blut, der den Raum erfüllte, mischte sich sofort ein stechender, würziger Duft.
    »Doktor«, meinte Elispeth, als Rachel zurückkam, »ich glaube nicht, dass wir Mutter und Kind retten können – wenn wir überhaupt einen von beiden durchkriegen.«
    »Ihr müsst das Leben des Kindes retten«, unterbrach Rachel. »Das ist die Pflicht aller Gottesfürchtigen. Der Priester sagt es. Rettet das Kind!«
    Morgenes warf ihr einen gereizten Blick zu. »Ich werde Gott auf meine Weise fürchten, gute Frau, wenn es Euch nichts ausmacht. Wenn ich sie rette – und ich will nicht so tun, als könnte ich es –, kann sie immer noch ein zweites Kind bekommen.«
    »Nein, das kann sie nicht«, knurrte Rachel wütend, »ihr Mann ist tot.« Und wenn einer das wissen musste, dachte sie, dann Morgenes. Susannas Mann, der Fischer, hatte den Doktor oft besucht, bevor er ertrank – obwohl Rachel sich nicht vorstellen konnte, was die beiden miteinander zu bereden gehabt hatten.
    »Ach was«, bemerkte Morgenes zerstreut, »sie kann ja durchaus noch einen anderen – wer war ihr Mann? Der Fischer?« Einerschreckter Ausdruck trat auf sein Gesicht, und er eilte an das Bett. Erst jetzt schien er wirklich zu begreifen, wer da lag und auf dem groben Laken sein Leben ausblutete.
    »Susanna?«, fragte er leise und drehte das angstvolle, schmerzverzerrte Gesicht der Frau zu sich hin. Eine Sekunde lang öffnete sie weit die Augen, als sie ihn sah, dann schloss ihr eine neue Welle von Schmerz wieder die Lider. »Was ist hier geschehen?«, seufzte Morgenes. Susanna konnte nur stöhnen, und der Doktor sah mit zornigem Gesicht zu Rachel und Elispeth auf. »Warum hat mir niemand gesagt, dass dieses arme Mädchen so kurz vor der Geburt stand?«
    »Sie wäre erst in zwei Monaten so weit gewesen«, antwortete Elispeth sanft. »Das wisst Ihr. Wir sind genauso überrascht wie Ihr.«
    »Und warum sollte es Euch kümmern, wenn eine Fischerswitwe ein Kind bekommt?«, fragte Rachel scharf. Auch sie konnte zornig sein. »Und warum wollt Ihr Euch gerade jetzt darüber streiten?«
    Morgenes starrte sie einen Moment an und blinzelte zweimal.
    »Ihr habt vollständig recht«, erwiderte er und wandte sich wieder dem Bett zu. »Ich werde das Kind retten, Susanna«, erklärte er der zitternden Frau.
    Sie nickte einmal mit dem Kopf und schrie dann Laut auf.
    Es war ein dünnes, klagendes Jammern, aber es waren die Laute eines lebendigen Säuglings. Morgenes reichte Elispeth das winzige, rotverschmierte Geschöpf.
    »Ein Junge«, erklärte er und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Mutter. Sie war jetzt ruhig und atmete langsamer, aber ihre Haut war weiß wie Harcha-Marmor.
    »Ich habe ihn gerettet, Susanna. Ich musste es tun«, flüsterte er. Die Mundwinkel der Frau zuckten – es hätte ein Lächeln sein können.
    »Ich … weiß …«, hauchte sie, und die Stimme aus ihrer wunden Kehle klang ganz, ganz leise. »Wenn nur … mein Eahlferend … nicht …« Die Anstrengung war zu groß, und sie verstummte.
    Elispeth beugte sich hinunter, um ihr das Kind zu zeigen, in Decken gewickelt, noch am blutigen Nabel hängend.
    »Er ist klein«, lächelte die Alte, »aber das liegt daran, dass er so früh gekommen ist. Wie ist sein Name?«
    »Nennt … ihn … Seoman …«, krächzte Susanna heiser, »das heißt … ›wartend‹ …« Sie drehte sich zu Morgenes um und schien noch etwas sagen zu wollen. Der Doktor neigte sich tiefer, bis sein weißes Haar ihre schneeblasse Wange streifte, aber sie konnte die Worte nicht mehr herausbringen. Gleich darauf keuchte sie einmal, und die dunklen Augen rollten nach hinten, bis das Weiße zu sehen war. Das Mädchen, das ihre Hand hielt, begann zu schluchzen.
    Auch Rachel fühlte, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Sie wandte sich ab und tat, als finge sie an aufzuräumen. Elispeth durchtrennte die letzte Verbindung zwischen dem Kind und seiner sterbenden Mutter. Die Bewegung ließ Susannas rechte Hand, die sie fest in die eigenen Haare gekrallt hatte, heruntersinken und schlaff zu Boden fallen. Die Finger öffneten sich und gaben etwas Glänzendes preis, das über die rohen Dielen rollte, bis es neben dem Fuß des Doktors liegen blieb. Aus dem Augenwinkel sah Rachel, wie Morgenes sich bückte und den Gegenstand aufhob. Er war klein und verschwand

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