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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sich auf die Schulter ihres jungen Mannes und stand auf. Sanft schwankend wie eine junge Birke im Wind fing sie an zu singen. Simon fühlte, wie sich die große Leere in ihm dem Lied öffnete, dem Abend, dem geduldigen, selbstgenügsamen Geruch des Grases und anderer Dinge, die wuchsen.
    O treuer Freund, O Lindenbaum , sang sie.
    Mein Schutz und Schirm von Jugend an,
    verrate mir, wo ist mein Mann,
    du Freund am Waldessaum.
    Wo ist er, dem mein Herz gehört,
    der all um alles mir versprach?
    Ging treulos fort. Mein Herz zerbrach.
    Die Liebe ist zerstört.
    Wo ging er hin, o Lindenbaum?
    In welchem Arm fand er sein Glück?
    Wie ruf ich wieder ihn zurück?
    Find du ihn mir im Traum!
    Frag nicht danach, o Herrin mein,
    nur ungern geb ich Antwort dir.
    Unmöglich ist die Lüge mir.
    Du würdest traurig sein.
    Verwehr mir’s nicht, o Linde wert,
    sag mir, zu wem heut Nacht er kam!
    Wer ist die Frau, die ihn mir nahm,
    dass er mein Wort nicht hört?
    Vernimm die Wahrheit, Herrin gut,
    dein Mann, du siehst ihn nimmermehr.
    Er ging am Fluss heut Nacht, am Wehr,
    und stürzte in die Flut.
    Der Wasserfrau gilt jetzt sein Kuss,
    und sie umschlingt ihn voller Glück.
    Doch sendet sie ihn dir zurück,
    tropfnass und kalt vom Fluss.
    So kehrt er wieder heim zu dir,
    tropfnass und kalt vom Fluss …
    Als das schwarzhaarige Mädchen sich wieder setzte, knisterte und sprühte das Feuer, als wollte es sich über ein so tränenfeuchtes, zärtliches Lied lustig machen.
    Simon entfernte sich eilig von den Flammen. Seine Augen standen voller Tränen. Die Stimme der Frau hatte ein wildes, hungriges Heimweh in ihm geweckt nach den scherzenden Stimmen der Küchenjungen, der beiläufigen Freundlichkeit der Kammerfrauen, nach seinem Bett, seinem Burggraben, Morgenes’ langgestreckten, sonnengefleckten Zimmern, sogar – die Feststellung bereitete ihm Kummer – der strengen Gegenwart von Rachel, dem Drachen.
    Hinter ihm erfüllten Gemurmel und Lachen die Frühlingsdunkelheit wie das Schwirren sanfter Flügel. Vor ihm schlenderten vielleicht zwei Dutzend Leute über die Straße vor der Kirche. Die meisten, in Zweier-, Dreier- und Vierergruppen, schienen durch das herabsinkende Dunkel auf den Gasthof zuzustreben. Aus der offenen Tür drang Feuerschein und tauchte die vor dem Eingang Stehenden in gelbes Licht. Als Simon, der sich immer noch die Augen wischte, näher kam, überschwemmte ihn der Geruch von Fleischund Braunbier wie die Woge eines Ozeans. Langsam, in mehreren Schritten Entfernung, ging er hinter der letzten Gruppe her und überlegte, ob er sofort nach Arbeit fragen oder erst einmal in der geselligen Wärme abwarten sollte, bis der Wirt vielleicht später einen Augenblick Zeit für ihn haben und sehen würde, dass er ein vertrauenswürdiger Bursche war. Der bloße Gedanke daran, einen fremden Menschen zu bitten, ihn bei sich aufzunehmen, machte ihm Angst; aber was blieb ihm übrig? Im Wald zu schlafen wie ein wildes Tier?
    Als er sich durch ein Grüppchen angetrunkener Bauern schlängelte, die über die Vorteile einer spät im Jahr vorgenommenen Schafschur stritten, wäre er beinahe über eine dunkle Gestalt gestolpert, die unter dem hin- und herschwingenden Gasthausschild an der Mauer hockte. Ein rundes, rosiges Gesicht mit kleinen dunklen Augen sah zu ihm auf. Simon gab ein paar gemurmelte Laute der Entschuldigung von sich und wollte schon weitergehen, als ihm plötzlich eine Erinnerung kam.
    »Ich kenne Euch!«, sagte er zu der zusammengekauerten Gestalt, die wie erschreckt die dunklen Augen aufriss. »Ihr seid der Mönch, den ich auf der Mittelgasse kennengelernt habe! Bruder … Bruder Cadrach.«
    Cadrach, der einen Moment ausgesehen hatte, als wolle er sich auf Händen und Knien davonmachen, kniff die Augen zusammen und musterte nun seinerseits Simon mit scharfem Blick.
    »Erinnert Ihr Euch nicht?«, fragte dieser aufgeregt. Der Anblick eines bekannten Gesichtes stieg ihm zu Kopf wie Wein. »Mein Name ist Simon.« Ein paar von den Bauern drehten sich um und schauten mit trüben Augen gleichgültig zu ihnen hinüber. Simon durchzuckte jähe Furcht, als ihm einfiel, dass er auf der Flucht war. »Mein Name ist Simon«, wiederholte er leiser.
    Ein Ausdruck des Erkennens, in dem noch etwas anderes lag, trat auf das runde Gesicht des Mönches. »Simon! Aber natürlich, Junge! Und was führt dich aus dem großen Erchester ins elende, kleine Flett?« Mithilfe eines langen Stockes, der neben ihm an der Mauer gelehnt hatte, stand

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