Der Drachenbeinthron
einen rothaarigen jungen Mann erinnern, der kürzlich vorbeigekommen war. Zudem hatte er es gar nicht so eilig, mit Fremden zu sprechen – nicht so nahe beim Hochhorst. Vielleicht würde er in einem der Gasthöfe am Rande des geheimnisvollen Waldes mehr Glück haben – wenn ihn einer davon aufnahm.
Schließlich verstehe ich etwas von Küchenarbeit, oder etwa nicht? Es wird mir schon jemand Arbeit geben …
Er kam über eine Kuppe und sah einen dunkleren Strich, der hier die Straße kreuzte, eine Rinne von Wagenspuren, die aus dem Wald kamen und sich südwärts in die Felder hineinwanden; vielleicht ein Holzweg, ein Pfad von der Lichtung der Holzhauer zum Ackerland im Westen von Erchester. Dort, wo die beiden Wege sich kreuzten, stand etwas Dunkles, eckig und aufrecht. Ein kurzer Anflug von Furcht befiel Simon, bevor ihm bewusst wurde, dass, was immer dort aufragte, zu groß war, um ein Mensch zu sein, der auf ihn wartete. Es musste eine Vogelscheuche sein, oder ein Straßenheiligtum für Elysia, die Mutter Gottes – Wegkreuzungen waren verrufene, unheimliche Orte, an denen das einfache Volk gern heilige Reliquienschreine errichtete, um Geister fernzuhalten, die dort sonst vielleicht herumlungerten.
Als Simon sich der Kreuzung näherte, stellte er fest, dass seine Vermutung, es handele sich um eine Vogelscheuche, wohl zutraf – der Gegenstand schien an einem Baum oder Pfahl zu hängen und schwankte, von einem leichten Wind bewegt, sacht vor sich hin. Je näher er allerdings kam, desto deutlicher wurde, dass es keine Vogelscheuche war. Bald konnte Simon sich nicht mehr einreden, dass es etwas anderes war als der Leichnam eines Mannes, der an einem plump zusammengezimmerten Galgen schaukelte.
Jetzt hatte er den Kreuzweg erreicht. Der Wind legte sich. Dünner Straßenstaub umgab den Jungen wie eine braune Wolke. Er hielt an und starrte hilflos nach oben. Der Straßenstaub begann, sich zu setzen, um dann von neuem in wirbelnde Bewegung zu geraten.
Die Füße des Gehängten, nackt und schwarz angeschwollen, baumelten in Höhe von Simons Schultern. Der Kopf hing schlaff nach einer Seite wie bei einem Welpen, den man am Nackenfell hochhebt; an Augen und Gesicht hatten die Vögel gepickt. Eine zerbrochene Holzschindel mit den darauf eingekratzten Worten »ND GEWILDERT« schlug leicht gegen seine Brust; unten auf der Straße lag noch ein Stück. Darauf stand in ungelenken Buchstaben: »IN KÖNIGSLA«.
Simon machte einen Schritt zurück. Eine unschuldige kleine Bö drehte den hängenden Körper um, sodass der Kopf nach der anderen Seite kippte, um blicklos auf die Felder hinauszustarren. Hastigüberquerte Simon den Holzweg und machte das Zeichen des vierspitzigen Baumes auf seiner Brust, als er den Schatten des Gehängten passierte. Normalerweise hätte er einen solchen Anblick zwar furchterregend, aber doch faszinierend gefunden, jetzt aber war alles, was dabei in ihm aufstieg, Ekel und Entsetzen. Er hatte ja auch gestohlen, oder beim Stehlen geholfen – etwas viel Größeres, als dieser armselige Dieb hier sich je hätte träumen lassen: Er hatte den Bruder des Königs aus des Königs eigenem Verlies gestohlen. Wie lange würde es dauern, bis sie ihn fingen, so wie sie dieses von den Krähen zerfressene Geschöpf gefangen hatten? Und was würde seine Strafe sein?
Einmal schaute er zurück. Das zerstörte Gesicht hatte sich erneut gedreht, als wollte es Simons Rückzug beobachten. Er rannte, bis er eine Straßensenke erreichte und die Kreuzung außer Sicht kam.
Es war später Nachmittag, als er das kleine Dörfchen Flett erreichte. Tatsächlich konnte man es kaum ein Dorf nennen; es gab nur einen Gasthof mit ein paar Häusern, die sich einen Steinwurf weit vom Wald entfernt neben der Straße aneinanderfügten. Kein Mensch war zu sehen außer einer dünnen Frau, die in der Tür eines der schmucklosen Häuser stand, und zwei ernsthaften, rundäugigen Kindern, die hinter ihren Beinen hervorspähten. Dafür gab es aber mehrere Pferde, zumeist Bauerngäule, die vor dem Dorfgasthof, der den Namen »Zum Drachen und Fischer« führte, an einen Baum gebunden waren. Als Simon langsam an der offenen Tür vorüberging und sich vorsichtig nach allen Seiten umblickte, grölten laute Männerstimmen aus der biergeschwängerten Dunkelheit und machten ihm Angst. Er beschloss, zu warten und sein Glück erst später zu versuchen, wenn vielleicht mehr Gäste da wären, die hier an der Alten Forststraße übernachten wollten, und seine
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