Der Drachenbeinthron
beneidenswerte Vertrautheit mit Orten, die Simon nur in seinen Tagträumen besucht hatte. Er sprach von der Sommersonne, die die glitzernden Schliffkanten im Inneren des eisigen Mintahoq herausarbeitete wie der kunstreiche Hammer eines Juwelenschmiedes; vom nördlichsten Ende des Waldes Aldheorte, einer Welt aus weißen Bäumen und Stille und den Spuren seltsamer Tiere; von den kalten Dörfern am Rand von Rimmersgard, die noch kaum vom Hof Johan Presbyters gehört hatten und wo wild blickende, bärtige Männer im Schatten hoher Berge am Feuer kauerten und selbst die tapfersten von ihnen die Wesen fürchteten, die über ihnen durch die heulende Finsternis wanderten. Er erzählte Geschichten von den verborgenen Goldminen von Hernystir, geheimen, schlangenartigen Tunneln, die sich zwischen den Höhen des Grianspog-Gebirges tief in die schwarze Erde hineinwanden; und er berichtete von den Hernystiri selbst, kunstreichen, verträumten Heiden, deren Götter in den grünen Feldern wohnten und im Himmel und in den Steinen und die von allen Menschen die Sithi am besten gekannt hatten.
»Und die Sithi gibt es wirklich«, sagte Simon leise, voller Verwunderung und mit mehr als nur ein wenig Furcht, als er sich erinnerte. »Der Doktor hatte recht.«
Binabik hob eine Augenbraue. »Natürlich gibt es Sithi. Glaubst du denn, sie säßen hier im Wald herum und fragten sich, ob es wirklich Menschen gibt? Was für ein Unfug! Menschen sind im Vergleich zu ihnen nur etwas Vorübergehendes – wenn auch etwas, das ihnen furchtbaren Schaden zugefügt hat.«
»Es ist ja nur, weil ich vorher noch nie einen gesehen hatte!«
»Auch mich und mein Volk hattest du vorher nie gesehen«, versetzte Binabik. »Du hast auch Perdruin oder Nabban oder das Wiesen-Thrithing noch nie gesehen … bedeutet das etwa, dass sie auch nicht existieren? Welch einen Hort von abergläubischer Torheit besitzt ihr Erkynländer! Ein Mann, der wahre Weisheit sein Eigen nennt, sitzt nicht da und wartet, dass die Welt stückweise zu ihm kommt, um ihr Vorhandensein zu beweisen!« Mit gerunzelten Brauen starrte der Troll vor sich hin, sodass Simon fürchtete, ihn beleidigt zu haben.
»Und was tut ein weiser Mann?«, fragte er ein wenig trotzig.
»Der weise Mann wartet nicht, dass ihm die Welt ihre Wirklichkeit beweist. Wie kann jemand Glaubwürdigkeit besitzen, bevor er sich dieser Wirklichkeit selbst gestellt hat? Mein Meister lehrte mich – und es scheint mir chash, das heißt zutreffend –, dass man sich gegen das Eindringen von Wissen nicht verteidigen darf.«
»Es tut mir leid, Binabik.« Simon trat gegen eine Eichelkapsel, dass sie sich überschlug. »Ich bin nur ein Küchenjunge … nichts weiter. Deine Worte ergeben keinen Sinn für mich.«
»Aha!« Schnell wie eine Schlange fuhr Binabik herum und klopfte Simon mit dem Stock auf den Knöchel. »Genau das ist ein Beispiel! Aha!« Der Troll schüttelte die kleine Faust. Qantaqa, im Glauben, er rufe sie, kam herbeigaloppiert und hüpfte im Kreis um die beiden herum, bis sie stehen bleiben mussten, um nicht über den fröhlich springenden Wolf zu fallen.
»Hinik, Qantaqa!«, zischte Binabik. Sie trollte sich schwanzwedelnd, ganz wie ein zahmer Burghund. »Nun, Freund Simon«, sagte der Troll, »bitte vergib mir, dass ich so gequiekt habe, aber du hast meine Ansicht bestätigt.« Er hob die Hand, um Simons Fragen Einhalt zu gebieten. Der Junge fühlte, wie der Anblick des kleinen, ernsthaften Trolls ein Lächeln auf seine Lippen zauberte. »Erstens«, fuhr Binabik fort, »werden Küchenjungen nicht in Fischeiern gelaicht oder aus Hühnereiern ausgebrütet. Sie können denken wie die weisesten Weisen, solange sie sich gegen das Eindringen von Wissen nicht wehren ; solange sie nicht sagen ›ich kann nicht‹ oder ›ich will nicht‹. Nun, und dazu wollte ich jetzt ein paar Erklärungen abgeben – sofern es dir recht ist.«
Simon fühlte sich erheitert. Nicht einmal der Schlag auf den Knöchel machte ihm etwas aus – es hatte ohnehin kaum wehgetan. »Bitte, erklär es mir.«
»Dann wollen wir das Wissen ansehen wie einen Fluss voller Wasser. Wenn du nun ein Stück Stoff bist, wie findest du mehr über dieses Wasser heraus – indem dich jemand mit einer Ecke hineintaucht und dann wieder herauszieht oder indem du dich ohne Widerstand hineinwerfen lässt, sodass das Wasser ganz durch dich hindurch und um dich herum fließt und du durch und durch nass wirst? Also?«
Der Gedanke, in einen kalten Fluss
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