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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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großer Teil ihrer Oberfläche von Moos und Efeu überwuchert. Die Stellen, die hervorlugten, waren verwittert, Schnörkel, Kurven und harte Kanten waren weicher geworden, rundgeschliffen von Wind und Regen. Oben, am höchsten Punkt, gerade über ihren Köpfen, als das kleine Boot hindurchglitt, breitete ein milchiggrüner, durchscheinender Steinvogel seine vom Wasser abgeschliffenen Schwingen aus.
    Gleich darauf hatten sie den schmalen Schatten passiert und waren auf der anderen Seite. Plötzlich schien der Wald Uraltes zu atmen, als wären sie durch eine offene Tür in die Vergangenheit geglitten.
    »Vor langer Zeit schon hat das Alte Herz die Wasserstraßen verschlungen«, sagte Binabik ruhig, während sie sich alle nach der Brücke umdrehten, die hinter ihnen immer kleiner wurde. »Vielleicht werden selbst die anderen Werke der Sithi eines Tages vergehen.«
    »Wie konnten sie nur auf so etwas den Fluss überqueren?«, fragte Marya. »Es sah so … zerbrechlich aus.«
    »Zerbrechlicher, als es einmal war, so viel ist sicher«, antwortete Binabik mit einem sehnsüchtigen Blick zurück. »Aber die Sithi bauten nie … bauen nie … allein der Schönheit wegen. Steht nicht der höchste Turm in Osten Ard, das Werk ihrer Hände, immer noch auf eurem Hochhorst?«
    Marya nickte sinnend. Simon zog die Finger durch das kalte Wasser.
    Durch elf weitere Brücken oder »Tore«, wie Binabik sie nannte, weil sie seit tausend Jahren oder mehr den Wasserweg nach Da’ai Chikiza geprägt hatten, fuhren sie hindurch. Jedes Tor trug den Namen eines Tieres, erklärte der Troll, und entsprach zugleich einer Mondphase. Nacheinander trieben sie so unter Füchsen, Hähnen, Hasen und Tauben hindurch, alle ein wenig von ihrer natürlichen Gestalt abweichend, aus hellem Mondstein oder leuchtendem Lapislazuli gemeißelt, aber alle unverkennbar das Werk der gleichen feinfühligen und ehrfürchtigen Hände.
    Als die Sonne hinter den Wolken ihren Vormittagsstand erreicht hatte, glitten sie gerade unter dem Tor der Nachtigallen dahin.
    Jenseits dieses Überganges, auf dessen stolzer Meißelarbeit noch immer Goldflecken glitzerten, begann der Fluss seine Richtung zu ändern und sich wieder westwärts zu wenden, der unsichtbaren Ostflanke der Weldhelmberge zu. Hier gab es keine Felsen und Wirbel mehr; die Strömung floss rasch und gleichmäßig. Simon wollte Marya gerade etwas fragen, als Binabik die Hand hob.
    Sie fuhren um eine Biegung, und da lag es vor ihnen: ein Wald ausunfassbar anmutigen Türmen – wie ein juwelenfunkelndes Rätsel inmitten des größeren Waldes aus Bäumen. Die Sithistadt, die sich auf beiden Seiten des Flusses erhob, schien unmittelbar aus dem Boden zu wachsen. Sie war wie der ureigene Traum des Waldes, Wirklichkeit geworden in feinem Stein, in hundert Farbtönen von Grün und Weiß und blassem Sommerhimmelblau. Sie war ein endloses Dickicht aus nadelspitzem Stein, aus hauchdünnen Übergängen wie Brücken aus Spinnwebe, aus filigranen Turmspitzen und Minaretten, die bis in die hohen Wipfel der Bäume reichten, um auf ihren Eisblumengesichtern die Sonne einzufangen. Vor ihnen lag eine Vergangenheit, die ihnen den Atem raubte und das Herz zerriss. Es war das Schönste, was Simon je gesehen hatte.
    Aber als sie tiefer in die Stadt hineinkamen, zwischen deren schlanken Säulen der Fluss sich hindurchwand, sahen sie deutlich, dass der Wald dabei war, Da’ai Chikiza zurückzuerobern. Die plattenbelegten Türme mit ihren Mustern aus kunstvollen Rissen waren von Efeu und verschlungenen Baumästen gefesselt wie durch Netze. An vielen Stellen, wo einmal Wände oder Türen aus Holz oder anderen vergänglichen Stoffen gewesen waren, standen die steinernen Hüllen jetzt gefährlich ungestützt, wie die gebleichten Skelette unvorstellbarer Meerestiere. Überall drängte sich Pflanzenwuchs hinein, klammerte sich an schmale Mauern, erstickte die zarten Turmspitzen gleichgültig in Laub.
    In gewisser Hinsicht, fand Simon, sah es dadurch nur noch schöner aus, so als hätte der Wald, rastlos und unerfüllt, eine Stadt aus sich selbst herauswachsen lassen.
    Binabiks ruhige Stimme unterbrach die Stille, feierlich wie der Augenblick selbst; ihr Echo verklang schnell im alles erstickenden Grün. » Baum des singenden Windes nannten sie es: Da’ai Chikiza. Einst war es voller Musik und Leben. In allen Fenstern brannten Lampen, und bunte Boote segelten auf dem Fluss.«
    Der Troll legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen, als

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