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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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liebsten hatte. Die Ecke der Mauer endete nur fünf oder sechs Fuß vor dem breiten Windschatten des Erkertürmchens im vierten Stock des Engelsturms. Simon blieb stehen und konnte beinahe das Schmettern der Trompeten und das Aneinanderklirren der Ritter hören, die auf den Decks unter ihm fochten, während er sich bereit machte, durch den brausenden Wind von einem brennenden Mast zum anderen zu springen …
    Ob sein Fuß beim Absprung leicht ausgerutscht oder seine Aufmerksamkeit von dem imaginären Seegefecht unter ihm abgelenkt gewesen war – jedenfalls landete Simon unsanft auf der Kante des Türmchens. Er schlug mit dem Knie heftig auf den Stein und wäre um ein Haar zurück- und hinuntergefallen, wobei er zwei lange Faden tief auf die niedrige Mauer am Fuß des Turmes oder in den Burggraben gestürzt wäre. Als ihm jäh bewusst wurde, in welcher Gefahr er geschwebt hatte, begann sein Herz erschreckt zu galoppieren. Aber er schaffte es, sich in den Raum zwischen den hochstehenden Zinnen des Türmchens gleiten zu lassen, umdann auf dem aus langen Dielen bestehenden Fußboden weiterzukriechen.
    Leichter Schnee senkte sich auf ihn herab, als er so dasaß und sich unendlich töricht vorkam. Er umschlang sein schmerzendes Knie, das brannte wie Sünde, Betrug und Verrat zusammengenommen; hätte er nicht genau gewusst, wie kindisch er sowieso schon aussehen musste, hätte er geheult.
    Endlich richtete er sich auf und hinkte ins Innere des Turmes. Wenigstens in einem Punkt war das Glück ihm treu geblieben: Niemand hatte seine schmerzhafte Landung gehört. Nur er allein wusste von seiner Schmach. Er untersuchte seine Tasche – Brot und Käse waren unerfreulich plattgedrückt, aber noch essbar. Auch das war ein kleiner Trost.
    Mit dem verletzten Knie Treppen zu steigen war mühsam, aber schließlich hatte es keinen Sinn, in den Engelsturm einzudringen – das höchste Bauwerk im Erkynland, wahrscheinlich sogar in ganz Osten Ard – und dann nicht über die Höhe der Hauptmauern des Hochhorstes hinauszukommen.
    Die Turmtreppe war niedrig und eng, die Stufen aus einem glatten, sauberen weißen Stein gehauen, der keinem anderen in der Burg glich. Er fühlte sich schlüpfrig an, war aber ansonsten trittsicher. Das Burgvolk erzählte sich, der Turm sei der einzige unverändert gebliebene Teil der ursprünglichen Sithifeste. Doktor Morgenes hatte Simon einmal gesagt, dass dies nicht stimme. Ob er damit aber gemeint hatte, der Turm sei doch verändert worden, oder nur, dass es noch andere unberührte Reste des alten Asu’a gab, hatte der Doktor in seiner eigenwilligen Art nicht erklären wollen.
    Nachdem er einige Minuten geklettert war, konnte Simon von den Fenstern aus sehen, dass er schon über dem Hjeldinturm war. Die ein wenig unheimliche Kuppelsäule, in der einst der Wahnsinnige König den Tod gefunden hatte, blickte über die weite Fläche des Thronsaaldaches zum Grünen Engel auf, wie etwa ein eifersüchtiger Zwerg seinen Fürsten anstarrt, wenn niemand ihn beachtet.
    Die steinerne Einfassung im Innern des Treppenhauses war hier anders: eine sanfte Rehfarbe, über und über bedeckt mit winzigen,rätselhaften Mustern in Himmelblau. Simon verharrte einen Augenblick an einer Stelle, an der das Licht aus einem hoch oben angebrachten Fenster auf die Wand fiel. Als er aber versuchte, den Windungen eines der zarten blauen Schnörkel mit den Augen zu folgen, wurde ihm schwindlig im Kopf, und er gab es auf.
    Endlich, als es ihm schon vorkam, als sei er einige schmerzhafte Stunden bergauf gestiegen, erweiterte sich die Treppe zum blendend weißen Fußboden des Glockenturmes, der ebenfalls aus dem ungewöhnlichen Stein der Treppen bestand. Obwohl der Turm noch fast hundert Ellen höher war und sich dabei bis hinauf zu der Engelsgestalt immer mehr verjüngte, endete die Treppe hier, wo von den gewölbten Dachbalken die großen Bronzeglocken in langen Reihen wie feierliche grüne Früchte hingen. Die Glockenstube selbst stand der kalten Luft nach allen Seiten offen, damit das ganze Land es hören konnte, wenn das Geläut des Grünen Engels aus den hohen Fensterbögen tönte.
    Simon hatte sich mit dem Rücken an einen der sechs Pfeiler aus dunklem, glattem, felsenhartem Holz gelehnt, die vom Boden zur Decke reichten. Er kaute an seinem Brotkanten und genoss die Aussicht nach Westen, wo die Wasser des Kynslaghs unaufhörlich gegen die massive Seemauer des Hochhorstes rollten. Obwohl es ein trüber Tag war und Schneeflocken vor

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