Der Drachenbeinthron
seinen Augen einen verrückten Tanz aufführten, bemerkte Simon mit Staunen, wie klar die Welt dort unten sich seinem Blick entgegenhob. Viele kleine Boote schwammen auf den Wogen des Kynslaghs, Männer vom See in schwarzen Mänteln beugten sich gelassen über die Ruder. Weiter hinten glaubte er undeutlich die Stelle zu erkennen, an der der Gleniwent-Fluss den See verließ und seine lange Reise zum Meer antrat, ein vielfach gewundener Lauf von einem halben Hundert Meilen, vorbei an kleinen Hafenstädtchen und Bauernhöfen. Draußen vor dem Gleniwent, in den Armen des Meeres, bewachte die Insel Warinsten die Flussmündung; hinter Warinsten in westlicher Richtung gab es nichts mehr, nur unzählige, unerforschte Meilen Ozean.
Simon prüfte das schmerzende Knie und entschied sich vorläufig gegen ein Hinsetzen, weil das bedeutete, wieder aufstehen zu müssen. Er zog sich den Hut über die Ohren, die vom Wind gerötetwaren und brannten, und nahm ein Stück bröckelnden Käse in Angriff. Zu seiner Rechten, allerdings weit außerhalb seines Gesichtsfeldes, lagen die Wiesen und steilen Hügel von Agh Samrath, äußerste Marken des Königreichs Hernystir und Ort der furchtbaren Schlacht, von der Morgenes ihm erzählt hatte. Zur Linken, jenseits des weiten Kynslaghs, wogten die Thrithinge – scheinbar unendliches Grasland. Natürlich hatten sie schließlich doch ein Ende; dahinter lagen Nabban, die Bucht von Firranos mit ihren Inseln und das Marschland von Wran … alles Gegenden, die Simon nie gesehen hatte und höchstwahrscheinlich auch nie zu sehen bekommen würde.
Endlich wurden ihm der ewiggleiche Kynslagh und seine eigenen Vorstellungen von einem Süden, den er nicht sehen konnte, langweilig, und er hinkte zur anderen Seite der Glockenstube hinüber. Vom Mittelpunkt des Raumes aus betrachtet, schien das wirbelnde, gestaltlose Wolkendunkel ein graues Loch zu sein, das ins Nirgendwo führte, und der Turm so etwas wie ein Geisterschiff auf nebligem, ödem Meer. Der Wind heulte und sang um die offenen Fensterhöhlungen, und die Glocken gaben ein schwaches Summen von sich, als hätte ihnen der Sturm kleine, verängstigte Geister unter die Bronzehaut gejagt.
Simon trat an den niedrigen Fenstersims und beugte sich vor, um das wirre Durcheinander der Dächer des Hochhorstes zu überschauen. Zuerst zerrte der Wind an ihm, als wollte er ihn packen und in die Höhe schleudern, so wie ein Kätzchen mit einem welken Blatt spielt. Aber Simon hielt sich fest am feuchten Stein, und bald ließ der Wind nach. Der junge Mann lächelte: Von seiner Warte sah das prachtvolle Dachgewirr des Hochhorstes – ein jedes von unterschiedlicher Höhe und Bauart, mit einem Wald von Schornsteinen, Firstbalken und Kuppeln – aus wie ein Hof voller seltsamer, viereckiger Tiere, von denen eines halb über dem Rücken des anderen hing und die um den Platz kämpften wie Schweine am Trog.
Nur von den beiden Türmen überragt, beherrschte die Kuppel der Burgkapelle den Inneren Zwinger. Graupelschnee bedeckte die farbenprächtigen Fenster. Die weiteren Gebäude der Burg, Wohnquartiere, Speisehalle, Thronsaal und Staatskanzlei, waren samt undsonders von Anbauten überwuchert, stumme Zeugen der unterschiedlichen Burgherren. Genauso vollgestopft waren die Äußeren Zwinger und die massive Zwischenmauer, die sich in konzentrischen Kreisen, einer tiefer als der andere, über den Berg zogen. Der Hochhorst selbst war niemals über seine Außenmauer hinausgewachsen; die hereindrängenden Menschen bauten in die Höhe oder teilten das Vorhandene in kleinere und immer kleinere Einheiten.
Unterhalb der Festung erstreckte sich die Stadt Erchester, Straße an Straße mit niedrigen Häusern, in einen Mantel aus weißen Schneewehen gehüllt; nur der Dom erhob sich aus ihrer Mitte, seinerseits überragt vom Hochhorst und von Simon in seinem Himmelsturm. Hier und da schwebte ein federleichter Rauchfaden nach oben, den der Wind zerfetzte.
Hinter den Stadtmauern konnte Simon die unbestimmten, vom Schnee geglätteten Umrisse der Begräbnisstätte ausmachen – des alten Heidenfriedhofes, eines übel beleumundeten Ortes. Die niedrigen Grashügel in seinem Rücken reichten fast bis zum Waldrand; über ihrer demütigen Gemeinde erhob sich der steile Berg Thisterborg so stolz wie der Dom über die niedrigen Dächer von Erchester. Simon konnte sie nicht sehen, wusste aber, dass ein Ring aus Steinsäulen, glattpoliert vom Wind, seinen Gipfel krönte; die Dorfbewohner nannten sie
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