Der Drachenbeinthron
einen Streifzug ins Freie besänftigen konnte. Aber der Doktor war beschäftigt – er hatte sich mit Inch eingeschlossen und arbeitete an etwas, das nach seinen eigenen Worten umfangreich, gefährlich und leicht in Brand zu setzen war; Simon wurde dabei nicht gebraucht. Und das Wetter draußen war so kalt und unfreundlich, dass er sich bei aller Unruhe nicht aufraffen konnte, irgendwo umherzustreifen.
So verbrachte er den endlosen Nachmittag mit Jeremias, dem dicken Lehrling des Wachsziehers. Die beiden warfen Steine von einem der Türmchen der Inneren Zwingermauer und stritten sich eher gelangweilt, ob die Fische im Burggraben im Winter erfroren oder, falls nicht, wohin sie gingen, bis es wieder Frühling wurde.
Die Kälte draußen, und mit ihr die andere Art Kälte in den Dienstbotenquartieren, hielt auch am Mondtag an, als Simon aufstand. Er fühlte sich kümmerlich und unbehaglich. Auch Morgenes schien bedrückter und ungeselliger Stimmung zu sein, sodass Simon, sobald er seine Arbeit in der Wohnung des Doktors erledigt hatte, etwas Brot und Käse aus dem Speiseschrank der Anrichte stibitzte und sich fortschlich, um allein zu sein.
Eine Weile drückte er sich am Archivsaal im Mittleren Zwinger herum und lauschte den trockenen, insektenhaften Geräuschen der Schreibpriester. Nach einer Stunde jedoch kam es ihm langsam so vor, als sei es seine eigene Haut, auf der die Federn der Schreiber herumkratzten und kratzten und kratzten …
Er beschloss, sein Essen mitzunehmen und die Treppe zum Engelsturm hinaufzuklettern, etwas, das er nicht mehr getan hatte, seitdem das Wetter umgeschlagen war. Weil der Küster Barnabas ihn aber mit demselben Vergnügen von dort verjagen würde, mit dem er sich mühte, in den Himmel zu kommen, entschied sich Simon,die Strecke über die Kapelle zum Turm gänzlich zu vermeiden und lieber seinen privaten Geheimpfad zu den oberen Stockwerken einzuschlagen. Er knüpfte seine Mahlzeit fest ins Taschentuch und machte sich auf den Weg.
Während er durch die scheinbar endlosen Hallen der Kanzlei lief und dabei immer wieder vom überdachten Gang in den offenen Hof und von neuem unter das Dach kam – dieser Teil der Burg wimmelte von kleinen, rings ummauerten Höfen –, vermied er es abergläubisch, zum Turm hinaufzusehen. Außergewöhnlich schlank und bleich beherrschte dieser die Südwestecke des Hochhorstes wie eine Birke einen Steingarten. Er war so unfassbar hoch und schmal, dass es von unten fast aussah, als stehe er auf irgendeinem fernen Berghang, viele Meilen jenseits der Burgmauer. Als Simon am Fuß des Turms stand, konnte er hören, wie er im Wind leicht vibrierte, wie eine Lautensaite, straff über einen himmlischen Wirbel gespannt.
Die ersten vier Stockwerke des Engelsturms sahen nicht anders aus als die der übrigen Gebäude auf der Burg. Frühere Gebieter des Hochhorstes hatten seinen schmalen Sockel in Vormauern und Zinnen aus Granit gehüllt, ob aus dem berechtigten Wunsch nach mehr Sicherheit oder deshalb, weil die Fremdartigkeit des Turms sie beunruhigte, konnte niemand mehr wissen. Über der den Turm umschließenden Zwingermauer endete diese Panzerung; nackt strebte der Turm nach oben, ein schönes Albinowesen, das aus seiner unscheinbaren Verpuppung schlüpfte. Balkone und Fenster mit fremdartigen, abstrakten Mustern waren unmittelbar in die glänzende Oberfläche des Steins gemeißelt, ähnlich den geschnitzten Walzähnen, die Simon schon oft auf dem Markt gesehen hatte. Von der Turmspitze schimmerte ein fernes Feuer aus Kupfergold und Grün: ein weiblicher Engel, den einen Arm wie Abschied nehmend ausgestreckt, mit dem anderen die Augen beschattend, mit denen er nach Osten in die Ferne blickte.
Die riesige, lärmende Staatskanzlei war heute noch verwirrender als sonst. Vater Helfcenes’ in Kutten gehüllte Gehilfen eilten hin und her und von einem Raum zum andern oder drängten sich zu zitternd geführten Debatten in der kalten, schneeflockigen Luft der Höfezusammen. Einige von ihnen, die gerollte Papiere in der Hand trugen und deren Gesichtsausdruck zerstreut war, versuchten Simon für Gänge zum Archivsaal einzuspannen, aber er schwindelte sich durch und behauptete, er sei für Doktor Morgenes unterwegs.
Im Vorzimmer des Thronsaales blieb er stehen und tat, als bewundere er die gewaltigen Mosaiken, während er darauf wartete, dass der letzte Kanzleipriester vorbeigeeilt und auf der anderen Seite in der Kapelle verschwunden sein würde. Als dieser Augenblick
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