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Der Drachenbeinthron

Der Drachenbeinthron

Titel: Der Drachenbeinthron Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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zielte auf die Brust des Vordersten. Noch während Deornoth, der die Anspannung im Gesicht des Wächters, die Verzweiflung in seinen Augen gesehen hatte, nach ihm sprang, ertönte von unten ein lautes Hämmern. Deornoth bekam den Bogenarm zu fassen und zwang ihn nach oben; der Pfeil sauste von der Sehne und verschwand in der windigen Finsternis über der Stadt.
    »Beim guten Gott, öffnet das Tor!« , schrie ein Mann, und wieder donnerte ein Speerende gegen die Bohlen. Es war die Stimme eines Rimmersmannes, aber, dachte Deornoth, fast lag ein Unterton von Wahnsinn darin. »Schlaft ihr denn alle? Lasst uns ein! Ich bin Isorn, Isgrimnurs Sohn, der aus der Hand unserer Feinde entkommen ist!«

    »Seht! Seht doch, die Wolken reißen auf! Haltet Ihr das nicht auch für ein hoffnungsvolles Vorzeichen, Velligis?«
    Bei seinen Worten beschrieb Herzog Leobardis mit der ausgestreckten Hand einen weiten Bogen zum offenen Fenster der Kabine hinüber und hätte dabei mit dem gepanzerten Arm fast seinen schwitzenden Knappen am Kopf getroffen. Der Knappe, im Begriff, dem Herzog die Beinschienen anzupassen, duckte sich, schluckte einen wortlosen Fluch hinunter und knuffte einen jungen Pagen, der ihm nicht schnell genug ausgewichen war. Der Page, der schon die ganze Zeit versucht hatte, sich in der vollgestopften Schiffskabineso klein wie möglich zu machen, erneuerte seine verzweifelten Anstrengungen, ganz und gar unsichtbar zu werden.
    »Vielleicht sind wir in gewisser Weise das spitze Ende des Keils, der diesem Wahnsinn ein Ende setzen wird.« Leobardis klirrte zum Fenster. Sein Knappe kroch auf dem Boden hinter ihm her, bemüht, eine erst halb befestigte Beinschiene an ihrem Platz zu halten. Der bedeckte Himmel zeigte tatsächlich lange, wellige Streifen Blau, als würden die tiefhängenden Wolken von den dunklen, massigen Klippen von Crannhyr abgefangen, die dort, wo Leobardis’ Flaggschiff, die Juwel von Emettin, unmittelbar vor ihnen ankerte, hoch über die Bucht ragten.
    Velligis, ein großer, dicker Mann in den Goldgewändern des Escritors, stampfte zum Fenster und stellte sich neben den Herzog.
    »Wie kann Öl, das man ins Feuer gießt, beim Löschen helfen, Herr? Entschuldigt meine Dreistigkeit, aber der Gedanke ist töricht.«
    Das Dröhnen der Appelltrommel hallte über das Wasser. Leobardis strich sich das strähnige weiße Haar aus den Augen. »Ich kenne die Gefühle des Lektors«, erwiderte er, »und ich weiß, dass er Euch, geliebter Escritor, angewiesen hat, mich zu überreden, von diesem Kampf abzulassen. Die Friedensliebe Seiner Heiligkeit … jawohl, sie ist bewundernswert; aber Worte werden uns dieses Mal keinen Frieden bringen.«
    Velligis öffnete eine kleine Messingschatulle und schüttelte ein Zuckerbonbon heraus, das er sich zierlich auf die Zunge legte. »Das klingt gefährlich nach Lästerung, Herzog Leobardis. Sind Gebete ›Worte‹? Ist die Einschaltung Seiner Heiligkeit des Lektors Ranessin vielleicht weniger wert als die Stärke Eurer Truppen? Wenn das so ist, wird unser Glaube an Usires’ Wort und an das Wort seines ersten Schülers Sutrines zum Spott.« Der Escritor seufzte schwer und lutschte an seinem Bonbon.
    Die Wangen des Herzogs röteten sich. Er winkte den Knappen beiseite und bückte sich knarrend, um selber die letzte Schnalle zu schließen. Dann verlangte er seinen Überrock aus tiefblauem Tuch mit dem in Gold auf die Brust gestickten benidrivinischen Eisvogel.
    »Gottes Segen mit dir, Velligis«, knurrte er ärgerlich, »aber ich habe heute anderes im Sinn, als mit Euch zu diskutieren. Der Hochkönig Elias hat mich zum Äußersten getrieben, und nun muss ich tun, was getan werden muss.«
    »Aber Ihr zieht nicht allein in die Schlacht«, beharrte der Dicke hitzig. »Ihr führt Hunderte, nein, Tausende von Männern an – von Seelen –, und in Eurer Hand liegt ihr Wohlergehen. Die Samen einer Katastrophe treiben im Wind, und Mutter Kirche trägt Mitverantwortung dafür, dass sie nicht auf fruchtbaren Boden fallen.«
    Leobardis schüttelte betrübt den Kopf. Der kleine Page hielt ihm schüchtern den goldenen Helm mit dem blaugefärbten Rosshaarbusch hin.
    »Fruchtbaren Boden gibt es heutzutage überall, Velligis, und die Katastrophe fängt bereits an zu sprießen – wenn Ihr mir diese Anleihe bei Euren poetischen Worten verzeiht. Unsere Aufgabe ist es, die Keimlinge auszureißen. Kommt!« Er klopfte dem Escritor auf den fleischigen Arm. »Es ist Zeit, ins Landungsboot zu steigen.

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