Der Drachenbeinthron
aller Verantwortung aus dem Weg ging und sich vor Rachels Aufträgen gleichermaßen drückte wie vor Morgenes’ Erläuterungen. Der Doktor hatte von Simons missglückten Vorstoß auf das Gebiet der Kriegskunst bisher nichts gehört – oder ihn jedenfalls nicht erwähnt –, und Simon wollte es gern dabei belassen.
Mit ausgebreiteten Armen und halbgeschlossenen Augen lag er in der Morgensonne und hörte in der Nähe seines Kopfes ein schwaches Tippeln. Gerade noch rechtzeitig öffnete er ein Auge, um einen grauen Schatten vorbeihuschen zu sehen. Er rollte sich auf den Bauch und tastete mit seinem Blick das Dach der Kapelle ab.
Vor ihm dehnte sich ein Feld aus buckligen, unregelmäßigen Schieferplatten aus, in deren Ritzen dichtgeringelte Knäuel aus braunem und fahlgrünem Moos sprossen. Auf wundersame Weise hatte es die Dürre überlebt und klammerte sich jetzt genauso zäh ans Leben, wie es sich an den zerbrochenen Platten festgesetzt hatte. Die Ebene aus Schiefer marschierte vom Dachrinnenrand bergauf bis zur Kuppel der Kapelle, die durch das Dach brach, wie die Schale einer Meeresschildkröte die seichten Wellen einer stillen Bucht durchbricht. Von hier aus gesehen wirkten die farbenprächtigen Glasfenster der Kuppel, die im Inneren der Kapelle in magischen Bildern aus dem Leben der Heiligen leuchteten, dunkel und flach, eine Parade roh gemalter Figuren vor einer eintönig grauen Welt. Am höchsten Punkt der Kuppel hielt ein eiserner Knauf einen goldenen Ädonbaum in die Höhe, aber von Simons Warte aus sah man, dass er lediglich vergoldet war – und das Blattgold schälte sich in schmalen Streifen ab und enthüllte den darunterliegenden Rost.
Jenseits der Burgkapelle dehnte sich das Dächermeer in alle Richtungen: die Große Halle, der Thronsaal, die Archive und Dienstbotenunterkünfte, alles schief und krumm, immer wieder ausgebessert oder ersetzt. Die darüber hingehenden Jahreszeiten leckten am grauen Stein und den bleiernen Schindeln und nagten sie schließlich ab. Zu Simons linker ragte der schlanke, weiße Hochmut des Engelsturms auf. Weiter hinten lugte hinter dem Bogen derKapellenkuppel die graue, vierschrötige Masse des Hjeldinturms hervor wie ein Hund, der dasitzt und Männchen macht.
Als Simon so die Weite der Dächerwelt überblickte, gewahrte er erneut am Rande seines Gesichtsfeldes eine kurze Bewegung. Er fuhr herum und sah, wie in einem Loch am Dachrand das Hinterteil einer kleinen, rußfarbenen Katze verschwand. Er kroch über die Schieferplatten, um nachzuschauen. Als er nahe genug war, um das Loch beobachten zu können, legte er sich wieder auf den Bauch und stützte das Kinn auf die Handrücken. Nichts regte sich mehr.
Eine Katze auf dem Dach, überlegte er. Nun, hier kann außer Fliegen und Tauben ganz gut noch jemand wohnen – wahrscheinlich frisst sie diese ständig scharrenden » Dachratten « .
Simon empfand, obwohl er bisher nur Schwanz und Hinterbeine des Tieres zu Gesicht bekommen hatte, eine plötzliche Zuneigung zu dieser Dachkatze. So wie er kannte sie die geheimen Gänge, die Ecken und Winkel und ging überall hin, ohne um Erlaubnis zu fragen. Wie er folgte diese graue Jägerin ihrem Weg ohne Anteilnahme und Wohltätigkeit anderer …
Obwohl Simon wusste, dass dies eine alberne Übertreibung seiner Situation war, gefiel ihm der Vergleich recht gut. War er nicht beispielsweise vor vier Tagen, dem Tag nach Elysiamess, unbemerkt auf ebendieses Dach geklettert, um den Appell der Erkyngarde zu beobachten? Rachel der Drache, ärgerlich darüber, dass er in alles vernarrt war außer in seine Hausarbeit, die sie als seine wahre – von ihm vernachlässigte – Pflicht ansah, hatte ihm vorher verboten, hinunterzugehen und sich unter die Menge am Haupttor zu mischen.
Ruben der Bär, der Burgschmiedemeister, ein Mann mit höckrigen Schultern und gewaltigen Muskeln, hatte Simon erzählt, die Erkyngarde breche nach Falshire auf, zum Ymstrecca-Fluss, östlich von Erchester. Es gebe dort Ärger mit der Wollhändlergilde, hatte Ruben dem Jungen erläutert und ein rotglühendes Hufeisen in einen Wassereimer geworfen. Dann hatte er den aufzischenden Dampf beiseitegewedelt und versucht, die verzwickte Lage zu beschreiben: Anscheinend hatte die Dürre einen derartigen Schaden angerichtet, dass die Schafe der Bauern von Falshire, ihr hauptsächlicher Lebensunterhalt, jetzt von der Krone beschlagnahmt werden mussten, umdie verhungernden, obdachlosen Massen zu ernähren, die nach Erchester
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