Der Drachenbeinthron
strömten. Die Wollhändler jammerten, dass sie dadurch ruiniert und ebenfalls in den Hungertod getrieben würden, zogen in den Straßen umher und hetzten die Einwohner gegen den unliebsamen Erlass des Königs auf.
Und so war Simon am letzten Tiastag heimlich auf das Kapellendach geklettert, um die Erkyngarde davonreiten zu sehen, mehrere Hundert wohlbewaffnete Soldaten und ein Dutzend Ritter unter dem Befehl Fengbalds, dessen Lehen Falshire war. Als der Graf an der Spitze der Garde auszog, prachtvoll anzusehen in seinem roten Wams mit silbergesticktem Adler, bemerkten ein paar von den Abgebrühteren in der Zuschauermenge, dass er offenbar deshalb so viele Soldaten mitnehme, weil er fürchte, seine Untertanen in Falshire würden ihn nicht wiedererkennen, so lange sei er nicht mehr dort gewesen. Andere meinten, er habe eher Angst, dass sie ihn erkennen könnten – Fengbald hatte sich nicht gerade unermüdlich für die Interessen seines Erblehens eingesetzt.
Simon erinnerte sich mit Begeisterung an Fengbalds eindrucksvollen Helm, eine Sturmhaube aus glänzendem Silber mit einem ausgebreiteten Schwingenpaar darauf.
Rachel und die anderen haben recht, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Da sitze ich und träume schon wieder vor mich hin. Fengbald und seine adligen Freunde werden nie auch nur erfahren, dass ich am Leben bin. Ich muss etwas aus mir machen. Schließlich will ich ja nicht ewig ein Kind bleiben, oder? Er kratzte mit einem Kieselstein auf einer Schieferplatte herum und versuchte einen Adler zu zeichnen. Außerdem würde ich in einer Rüstung bestimmt albern aussehen … oder?
Die Erinnerung an die Soldaten der Erkyngarde, die so stolz zum großen Nerulagh-Tor hinausmarschierten, berührte ihn an einem wunden Punkt, berauschte ihn aber auch ein wenig; träge stieß er die Füße von sich und beobachtete die Katzenhöhle, auf ein Zeichen ihrer Bewohnerin hoffend.
Es war eine Stunde nach Mittag, als vorn im Loch eine misstrauische Nase auftauchte. Simon ritt gerade auf einem Hengst durch die Torevon Falshire, aus allen Fenstern mit Blumen überschüttet. Von der plötzlichen Bewegung wieder aufs Dach zurückgeholt, hielt er den Atem an, als der Rest des Tieres der Nase folgte: eine kleine, kurzhaarige Graue mit einem weißen Fleck vom rechten Auge bis zum Kinn. Der Junge rührte sich nicht, als die Katze, kaum drei Ellen von ihm entfernt, jäh über irgendetwas erschrak und einen Buckel und schmale Augen bekam. Simon fürchtete, sie hätte ihn bemerkt, aber als er weiter unbeweglich ausharrte, kam sie plötzlich heraus, sprang aus dem Schatten der aufgebogenen Dachkante in den breiten Gang der Sonnenbahn. Entzückt schaute Simon zu, wie das graue Kätzchen einen losen Kiesel fand und ihn flach über die Dachplatten hüpfen ließ, um ihn dann mit geschickter Pfote einzufangen und das Spiel von neuem zu beginnen.
Eine ganze Weile sah er den Possen der Dachkatze zu, bis ein besonders komischer Sturz auf das Katzenhinterteil – das Kätzchen war mit beiden Pfoten über ein Stück Schiefer gerutscht und zum Stehen gekommen, indem es kopfüber in einen Spalt zwischen den Dachplatten gepurzelt war, wo es nun lag und erbost mit dem Schwanz wackelte – ihn dazu brachte, sich zu verraten. Lang unterdrücktes, prustendes Gelächter brach sich Bahn; das Tierchen machte einen Luftsprung, überschlug sich, landete und stürzte zurück in sein Loch, ohne mehr als einen kurzen Blick in Simons Richtung zu werfen. Dieser hastige Abgang ließ den Jungen in einen neuen Lachkrampf verfallen.
»Mach Platz, Katz!«, rief er der Verschwundenen zu. »Platz, du Katz! Ratzenkatz!«
Als er auf den Eingang des Loches zukroch, um der Grauen ein kleines Liedchen über Dächer, Steine und Einsamkeit, die sie miteinander geteilt hatten, vorzusingen – irgendwie war er ganz sicher, dass sie ihm zuhören würde –, fiel Simon etwas anderes ins Auge. Er hielt sich mit der Hand an der Dachkante fest und reckte den Kopf, um besser sehen zu können. Der aufkommende Wind zeichnete ihm feine Muster ins Haar.
Drüben im Südosten, weit jenseits der Grenzen von Erchester und den Vorgebirgen über dem Kynslagh, zog sich eine schmierig dunkelgraue Spur über den klaren Marrishimmel, als fahre man miteinem schmutzigen Daumen über eine frisch gestrichene Wand. Noch im Hinschauen zerfetzte der Wind den dunklen Streifen, aber nun stiegen von unten große, dunkle Wolken auf, eine wirbelnde Finsternis, so dicht, dass kein Wind sie
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