Der Drachenbeinthron
Lauschens beugte Simon sich vor und legte das Auge an das Loch in der Tür.
Zu seiner großen Überraschung brannte in einer Wandhalterung des dahinterliegenden Raumes eine Handvoll Binsen. Aber jeder berauschende und schreckenerregende Gedanke daran, Pryrates’ geheimen Hort gefunden zu haben, verging sofort beim Anblick des feuchten, mit Stroh bedeckten Bodens und der kahlen Wände. Aber da war etwas … hinten im Raum … ein dunkles Schattenbündel.
Ein klirrender Laut ließ Simon überrascht herumfahren. Überwältigt von Furcht blickte er sich verzweifelt um und erwartete jeden Augenblick das Stampfen schwerer Stiefel im Gang zu vernehmen. Nochmals ertönte das Geräusch, und Simon begriff erstaunt, dass es aus dem Raum hinter der Tür kam. Wieder legte er das Auge vorsichtig an das Loch und starrte ins Dunkel. Hinten an der Wand bewegte sich etwas, eine Gestalt; und als sie langsam zur Seite schwankte, hallte von neuem das harte, metallische Rasseln in dem kleinen Raum wider. Die Gestalt hob den Kopf.
Simon würgte und sprang mit einem Satz von dem Guckloch zurück, als hätte man ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Er fühlte den festen Boden unter seinen Füßen wanken. Ihm war, als hätte er etwas Vertrautes umgedreht und madenwimmelnde Fäulnis darunter entdeckt.
Das angekettete Etwas, das ihn da von innen angestarrt hatte … die Gestalt mit den gespenstischen Augen … war Prinz Josua.
12
Sechs silberne Sperlinge
imon taumelte über den Angerhof. In seinem Kopf schrien die Gedanken wie eine gewaltige Menschenmenge. Er wollte sich verstecken. Er wollte davonlaufen. Er wollte die entsetzliche Wahrheit herausbrüllen und dann lachen, damit die Burgbewohner stolpernd und sich überschlagend aus den Türen gestürzt kamen. Wie sicher sie doch ihrer Sache immer waren, wie sie Vermutungen anstellten und klatschten – und nichts wussten! Nichts! Simon wollte laut losheulen und Gegenstände umwerfen, aber er konnte sein Herz nicht vom Bann der Furcht befreien, den Pryrates’ Aasvogelaugen über ihn geworfen hatten. Was sollte er tun? Wer würde ihm helfen, die Welt wieder ins Lot zu bringen?
Morgenes.
Noch während Simon mit schlotternden Gliedern über die dämmrigen Burghöfe rannte, erschien vor seinem geistigen Auge das ruhige, vergnügte Gesicht des Doktors und verdrängte die tödlichen Züge des Priesters und den angeketteten Schatten dort unten im Verlies. Ohne es recht wahrzunehmen, floh er an dem schwarzgestrichenen Tor des Hjeldinturms vorbei und die Stufen zur Staatskanzlei hinauf. In wenigen Sekunden hatte er die langen Korridore durchquert und die Tür zum verbotenen Engelsturm aufgerissen. So heftig trieb es ihn nach der Wohnung des Doktors, dass er dem Küster Barnabas, falls dieser auf ihn gewartet hätte, um ihn zu fangen, schnell wie Quecksilber durch die Finger geglitten wäre. Ein brausender Wind durchfuhr ihn, erfüllte ihn mit wilder Hast, jagte ihn weiter. Noch bevor die Seitentür des Turms hinter ihm ins Schloss fiel, war er schon an der Zugbrücke; Sekunden später hämmerte er an Morgenes’ Tür. Ein paar Wachen der Erkyngardesahen gleichgültig auf und widmeten sich dann wieder ihrem Würfelspiel.
»Doktor! Doktor!«, schrie Simon und donnerte auf die Tür ein wie ein wahnsinnig gewordener Küfer. Gleich darauf erschien der alte Mann, mit nackten Füßen und offensichtlich beunruhigt.
»Bei den Hörnern des schnaubenden Cryunnos, Junge! Bist du verrückt? Hast du Hummeln gefressen?«
Ohne ein Wort der Erklärung drängte Simon sich an Morgenes vorbei und rannte den Gang entlang. Vor der inneren Tür blieb er keuchend stehen. Der kleine Mann folgte ihm. Nachdem er ihn einen Augenblick scharf gemustert hatte, ließ er Simon eintreten.
Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, als Simon die Geschichte seiner Expedition und ihrer Ergebnisse hervorzusprudeln begann. Der Doktor schürte umständlich ein kleines Feuer und goss einen Krug Würzwein zum Wärmen in einen Topf. Während er sich so beschäftigte, hörte er Simons Bericht zu und stocherte ab und zu mit einer Frage im Redefluss des Jungen wie ein Mann, der einen Stock in einen Bärenkäfig hält. Mit grimmigem Kopfschütteln reichte er Simon einen Becher mit dem Glühwein und setzte sich dann mit seinem eigenen Becher in einen zerkratzten, hochlehnigen Sessel. Er hatte Pantoffel über die dünnen, weißen Füße gezogen und hockte nun mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Stuhlkissen. Das graue
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