Der Drachenthron: Roman (German Edition)
Einige von Euch haben sie schon einmal vernommen. Andere haben sie bereits zwei- oder dreimal gehört. Es sind alte und weise Worte. Es sind nicht meine Worte, sondern die Worte aller Sprecher, die über die Jahrzehnte überliefert und geschliffen wurden. Ihr werdet sie jetzt hören, und dann erst wieder in zehn Jahren, also bitte ich Euch, mir zu lauschen und sie Euch gut einzuprägen.« Er sah jedem am Tisch der Reihe nach ins Gesicht. Einige hörten ihm tatsächlich zu, andere täuschten es nur vor. Es spielte keine Rolle. Seine Stimme war durchdringend und kräftig, und er fragte sich, ob einer der Anwesenden die einfache Freude nachvollziehen konnte, endlich wieder normal sprechen zu können, die Worte klar und deutlich über die Lippen zu bringen, nicht verstümmelt und abgehackt durch das Zucken, das ihn gequält hatte. Insbesondere sah er König Tyan an, seinen alten Freund und Feind. Dort war auf jeden Fall ein König, der nicht lauschte. Tyan war ein – geschlafen. Er zitterte ein wenig, rührte sich ansonsten jedoch nicht.
Prinz Jehal, der neben Tyan saß, fing Hyrams Blick auf und legte den Kopf schief.
Hyram bleckte die Zähne und fuhr fort: »Heutzutage führen wir akribisch Buch über unsere Drachen.« Er nickte den Alchemisten am anderen Ende des Tisches zu. »Wir wissen, wann sie geboren wurden und kennen ihre Stammbäume. Wir züchten sie nach unserem Gutdünken, aber das war nicht immer der Fall. Früher einmal waren es wilde Tiere. Wir haben keine Überlieferungen aus dieser Zeit. Nicht, weil es damals keine Tinte oder Bücher gegeben hätte, sondern weil alles niedergebrannt wurde. Es gab keine Dörfer, keine Städte. Nicht, weil es keinen Ziegel oder Mörtel gegeben hätte, sondern weil alles niedergebrannt wurde. Es gab vielleicht sogar Könige und Armeen, doch sie sind längst vergessen, weil alles niedergebrannt wurde. Wir haben uns in den Wäldern versteckt, da sie unserer dort nicht habhaft wurden. Wir lebten so, wie die Outsider heute noch leben, im Dreck und am Hungertuch nagend.«
Er ließ erneut die Augen über ihre Gesichter wandern und schlug dann ein zweites Mal den Kelch auf den Tisch. Dieses Mal knallten die Könige und Königinnen ihre Becher ebenfalls auf das Holz. »Das war, bevor die Alchemisten kamen.« Er hob seinen Kelch in Richtung des anderen Endes des Tisches, wo ihm Jeiros verlegen zunickte. »Jetzt sind die Drachen zahm, und wir sind ihre schwachen Meister. Ihr, meine Könige und Königinnen der Neun Reiche. Ihr seid ihre Meister. Euch mangelt es an nichts, und Ihr seid niemandem zur Rechenschaft verpflichtet. Außer …«
Jetzt war die Zeit gekommen. Er nahm den Ring des Sprechers, der einem schlafenden Drachen nachgebildet war, vom Finger und legte ihn behutsam auf die Tischplatte. Sein Finger fühlte sich sonderbar nackt an. Dann legte er den Adamantspeer daneben.
»Außer dem hier«, sagte er. In seinen Träumen hatte er dieses Szenario schon so viele Male durchgespielt, und es war ihm immer wie das Ende seines Lebens vorgekommen, als sei dies das Einzige, das ihn zusammenhielt. Er hatte geglaubt, er würde den Ring abnehmen und den Speer weglegen und sich augenblicklich in Luft auflösen. Doch jetzt, als der Moment Wirklichkeit geworden war, fühlte sich Hyram beschwingt, als sei dies ein Anfang und kein Ende.
Er hob den Ring wieder auf und hielt ihn hoch, damit ihn jeder sehen konnte. »Hier. Dieser Ring bindet Euch. Bindet Euch an die uralten Abkommen, die vor ewigen Zeiten zwischen den Vorfahren all unserer Clans getroffen wurden. Alle zehn Jahre sollt Ihr einen unter Euch auswählen, der diesen Platz einnimmt. Der zum Richter Eures Handelns und zum Schlichter Eurer Streitigkeiten wird. Vor zehn Jahren habt Ihr und Eure Väter und Mütter mich auserkoren. Meine Zeit ist nun vorüber. In einer Woche werdet Ihr jemand anderen bestimmen. Ich werde Euch beratend zur Seite stehen, aber die Entscheidung liegt letztendlich bei Euch.«
Da. Geschafft. Die Rede, die sie alle schon einmal gehört hatten, die Rede, die seit Urzeiten von jedem Sprecher gehalten wurde. Seine letzte Aufgabe. Von nun an gab es keinen Sprecher Hyram mehr. Er musste nicht einmal mehr mit ›Eure Heiligkeit‹ angeredet werden. Er war nichts weiter als ein Drachenlord, der am Tisch des Sprechers saß. Er legte den Ring wieder hin und knallte ein letztes Mal seinen Kelch auf den Tisch.
Jemand begann zu klatschen. Sehr langsam. Jehal. Es konnte niemand anderes als Jehal sein.
»Welch
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