Der Drachenthron: Roman (German Edition)
Ecke des Turmdachs, weg von den neugierigen Blicken. »Wenn du meinen Ratschlag hören willst, dann schweigst du lieber.«
»Es ist Betrug «, zischte Jaslyn erneut.
Almiri zwang ihre Schwester auf einen Stuhl. »Es ist nur Betrug, wenn der Sprecher das behauptet, und das hat er nicht. Wann hast du Sprecher Hyram zum letzten Mal gesehen? Vor heute, meine ich?«
Jaslyn spuckte über die Brüstung des Turms. »Auf dem Weg zu Lystras Hochzeit. Als Mutter unsere Weiße den Dieben regelrecht aufgedrängt hat.« Sie runzelte die Stirn. »Wenn Prinz Jehal König Tyan auf den Rücken eines Drachen verfrachten kann, warum bringt er dann nicht auch Lystra mit? Das ist unfair.«
Almiri überging ihren Einwand. »Ist dir in Bezug auf Sprecher Hyram nichts aufgefallen?«
»Nicht wirklich.« Jaslyn zuckte mit den Schultern.
»Hast du nicht bemerkt, dass sein Zittern und Stottern verschwunden ist?«
Jaslyn warf einen Blick auf den Sprecher. »Oh. Hat er das denn früher?«
»Kleine Schwester, bist du blind ?« Almiri lachte. »Sprecher Hyram ist im vergangenen Jahr ganz langsam dahingesiecht. Die Alchemistenkrankheit. Weißt du, was das ist?«
Jaslyn schüttelte den Kopf.
»Das Gleiche, was König Tyan hat. Sieh ihn dir an.«
»Ich weiß, dass er krank ist.«
»Es beginnt mit einem unkontrollierbaren Zittern. Im Laufe der Jahre verschlimmert es sich, und man verliert die Kontrolle über seinen Körper. Zu guter Letzt stirbt man wahrscheinlich. Normalerweise verhungern die Menschen einfach, weil sie nicht mehr alleine essen können, oder ihre Familien schicken sie still und heimlich fort. König Tyan ist vor fast zehn Jahren an diesem Leiden erkrankt.«
Almiri schüttelte es. »Wie dem auch sei. Was ich dir zu erklären versuche, ist, dass Sprecher Hyram ebenfalls krank war, doch jetzt geht es ihm besser, und es ist Königin Zafir, die das Heilmittel gefunden hat. Außerdem wird viel über Sprecher Hyram und Königin Zafir getuschelt, also würde ich mich an deiner Stelle lieber nicht bei ihm beschweren.«
Jaslyn rümpfte die Nase. »Betrug ist Betrug.«
Almiri packte Jaslyn am Arm und drückte fest zu. »Hör mir zu, kleine Schwester. Du wirst nichts tun, was den Sprecher verärgern könnte. Du lässt keinen Ton über Königin Zafir verlauten. Verstanden?«
»Warum?«
»Weil Mutter dir ansonsten den Kopf abreißen würde. Sie ist nervös. So habe ich sie schon seit Langem nicht mehr erlebt. Hyram könnte seine Meinung in Bezug auf seinen Nachfolger noch ändern.«
»Aber das darf er nicht.«
Almiri bohrte ihre Finger noch tiefer in Jaslyns Arm, bis es schmerzte. »Doch, das kann er. Er ist der Sprecher .«
»Wir haben eine Abmachung!«
»Die ohne Weiteres gebrochen werden kann.«
»Aber …«
Almiri ließ sie los. Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »Kleine Schwester, das hier sind Könige und Königinnen, nicht deine Drachen. Sie tun nicht immer das, was du ihnen befiehlst.«
42
Könige und Königinnen
H yram stellte seinen Kelch ab und erhob sich. Dann ließ er den Blick über den riesigen zehneckigen Tisch mit den Königen und Königinnen, Lords, Meisteralchemisten und Priestern schweifen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zum letzten Mal so jung, so stark, so mächtig gefühlt hatte. Sein Kopf schwirrte von Zafirs Elixieren. Sie machten ihn nervös, hyperaktiv und lüstern, doch sein Zittern und das Stottern waren verschwunden – und allein das zählte. Er trug die Robe des Sprechers und hielt den Speer des Sprechers in Händen, und er spürte die Macht dieser Waffe. Er konnte sich nicht ins Gedächtnis rufen, wann er sich zum letzten Mal so stark gefühlt hatte.
Um den Tisch herum unterbrachen die Herren und Herrinnen der neun Reiche – die Drachenkönige und -königinnen -, die jeweils an einer Seite des Tisches thronten, ihr Festmahl und schenkten Hyram ihre Aufmerksamkeit. Neben ihm, an seiner Tischseite, saß Sirion, sein treu ergebener Cousin, der seine Krone geerbt hatte, nachdem Hyram zum Sprecher aufgestiegen war. An der zehnten Seite, ihm gegenüber, saßen die Großmeister der Alchemisten und die Drachenpriester, die seinen Nachfolger salben würden. Wie erwartet war eine Seite des Tisches fast leer: Der König der Felsen hatte sich nicht dazu herabgelassen, an ihrem Treffen teilzunehmen. Also auch hier keine Überraschungen .
Er knallte den Kelch auf den Tisch und räusperte sich. »Diese Worte werden nur einmal alle zehn Jahre gesprochen. Ihr werdet sie heute hören.
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