Der dreizehnte Apostel
den Ausgang aus der Altstadt markierte und nun abgegriffen war von den Berührungen der Millionen von Pilgern. Hinter dem Tor und eine Stufe weiter unten befand sich das Dach der großen Grabeskirche. Lucy ging über das glatte Pflaster und hörte Hymnen und Gesänge und geschäftiges Treiben unter sich. Sie trat an eine Kuppel und spähte hinunter auf die Betenden in der Kapelle des reuigen Diebes im Unter geschoß der Gra beskirche. Wahrlich, ich sage dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. Weiter oben auf einer Plattform bot sich Lucy ein noch seltsamerer Anblick. Hütten. Afrikanische Hütten, gebaut aus weißem Mörtel. Hinter einer Mauer waren Wäscheleinen unter den Ruinen gotischer Gewölbe gespannt, an denen Mönchskutten hingen. Weiter standen da mehrere kleine Häuser, Ein-Zimmer-Klausen mit schiefen Türen und schrägen getünchten Mauern, wie etwas aus The Hob-bit. »Wer lebt hier?« flüsterte Lucy.
»Die Äthiopier«, erklärte O’Hanrahan.
Als in Äthiopien im 17. Jahrhundert schlechte Zeiten anbrachen, wiesen die griechischen Orthodoxen
den Äthiopiern die Tür, da sie sich nicht mehr an den Zahlungen an die Moslems beteiligen konnten. (Richtig. Es fiel den Orthodoxen nie ein, daß sie für Unsere verarmten Brüder bezahlen könnten.)
Lucy erinnerte sich sofort daran, daß sie David McCall, der jetzt wahrscheinlich auf dem Weg nach Äthiopien war, von dieser Merkwürdigkeit schreiben musste . Seit dem 4. Jahrhundert hatten sich die Äthiopier während jedes Aufstiegs und Falls ihres Landes an diese Kirche geklammert, während jeder Verfolgung im Heiligen Land, und nun waren sie immer noch da, mit ihrer unergründlichen musikalischen Liturgie auf Ge’ez, der altäthiopischen Sprache, ihren Spazierstöcken, auf die sie sich während ihrer langen Messen stützten, ihren Gesängen, die stufenweise an-und abschwollen wi e ein östliches Mantra, ein Sum men, das hin und wieder mit Worten verschmolz. Lucy blieb eine Weile an der Tür zu der Kapelle stehen, neben der Treppe, die hinunterführte in den übrigen Grabkomplex.
»Die Kopten der ägyptisch-orthodoxen Kirche«, erklärte O’Hanrahan, »und die Äthiopier haben über Jahrhunderte um diese Treppe gestritten. Jetzt gehört sie den Äthiopiern, weil sie in den siebziger Jahren die Schlösser der Kapelle ausgewechselt haben und nach dem Sechstagekrieg kein Ägypter in Israel eine faire Verhandlung bekam. Glücklicherweise sind Muslime verantwortlich für die Kirche und erhalten den Frieden aufrecht.«
»Muslime? Sie machen Witze.«
»Aber nein. Eine Anordnung Saladins, nach dem Sieg über die Kreuzritter. Noch heute werden die Schlüssel der Tür zum Heiligen Grab von Muslimen kontrolliert. Diese bestimmen, wann sie geöffnet und geschlossen wird, wer hineinkommt und so weiter. Sie führen sogar viele Reparaturarbeiten aus, da die Christen erfahrungsgemäß nichts tun, von dem auch eine andere Religionsgemeinschaft profitieren könnte.« Lucy runzelte die Stirn, verärgert über ihre Glaubensbrüder. »Gut«, sagte O’Hanrahan. »Sie können nun sterben, Schwester Lucy, Sie sind hier am Heiligen Grab, wo es Ablässe im Überfluss gibt! Ich versuche jetzt, Pater Vico zu finden. Wir treffen uns wieder im Hotel, wenn ich Ihnen nicht vorher über den Weg laufe. Wünschen Sie mir Glück.«
Lucy ging die dunkle äthiopische Treppe hinunter, die in den Hof und zu dem einfachen Eingang in die Grabeskirche führte. Sie machte ein Foto, obwohl die-se berühmte Kirche nicht besonders malerisch war. Sie hatte keine bemerkenswerte Fassade, nur einen Eingang, der in eine hohe Mauer aus altem Sandstein eingelassen war. Das Ziel von Pilgern zweier Jahrtausende, der glorreiche Augenblick im Leben mittelalterlicher Männer oder Frauen, der größte Ablass , der möglich war.
YYY
O’Hanrahan trat in die weiter innen liegenden Winkel der Grabeskirche ein. In der franziskanischen Marien Kapelle fragte er, wo er Pater Vico finden könne, und wurde in einen schmalen Gang geführt. Es roch nach Moder und Verfall, obwohl die Franziskaner wahrscheinlich die besten Hausmeister unter den sechs verschiedenen Religionsgemeinschaften waren, die diesen Riesenbau miteinander teilten. In einem feuchten Gang erspähte O’Hanrahan den Assistenten des Paters, Bruder Antonio, der hier auch nicht fröhlicher schien als in Assisi.
»Ah, professore«, begrüßte ihn Pater Vico, der aus der Dunkelheit auftauchte. »Folgen Sie mir … Es ist sehr dunkel, nicht
Weitere Kostenlose Bücher