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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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Pater Vico öffnete den Safe und reichte O’Hanrahan einen Behälter mit der Schriftrolle.
    Der Professor streifte die Schutzhülle ab, um einen Blick auf den Papyrustext zu werfen. »Ja, sie ist es«, sagte er dann. »Ich muss sie vielleicht noch einmal fotografieren«, fügte er hinzu, da er durchaus damit rechnete, daß der Rabbi eine Weile nicht eben kooperativ sein würde. »Ah«, meinte der Franziskaner Pater , »ich sehe es in Ihren Augen, daß man Sie mit Geld nicht dazu bringen kann, unsere gemeinsamen Abmachungen zu verraten.«
    O’Hanrahan hatte das Gefühl, daß er nun aufbrechen konnte, ohne unhöflich zu wirken. »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Pater. Nichts bedeutet mir mehr, als unsere Schriftrolle zu übersetzen.« Er steckte das pseudo-Andreasevangelium in seine Mappe und verabschiedete sich. »Oh, ich habe noch eine Frage«, rutschte es ihm heraus, ohne daß er bedachte, daß er so noch länger bei Pater Vico aufgehalten werden würde.
    »Ja?« »Ist das Matthäusevangelium auch sicher hier, mitten unter den fünf anderen Glaubensgemeinschaften?«
    Pater Vico beugte sich vor und erwiderte vertraulich: »Niemand außer den Franziskanern wird es je in die Hand bekommen, und wir werden es verteidigen, wie wir diese Kirche verteidigt haben: bis in den Tod!« O’Hanrahan fühlte, daß die Vorstellung, die Schriftrolle unter Einsatz seines Lebens zu verteidigen, für Pater Vico eher ein Nervenkitzel war. Schadenfroh fuhr der Franziskaner fort: »Wenn jemand mich verfolgen sollte, wird ihm das keine Genugtuung bringen! Ich bin nur ein zimbello – wie hat das noch geheißen? Kö … Kö …«
    »Köder, Pater.«
    »Ah, das muss ich mir aufschreiben …« Pater Vico suchte in seiner Kutte nach einem Stift, fand aber keinen; danach suchte er in jeder Schreibtischschublade, im Schrank, er rief nach Antonio, der auch keinen Stift bei sich hatte, aber einen holen wollte, wenig später ohne Stift zurückkam, getadelt und erneut fortgeschickt wurde – und schließlich einen Stift brachte. »Na endlich … ah! Kein Papier! Antonio!«
    YYY
     
    Wie alle Pilger war Lucy Dantan enttäuscht vom Anblick der baufälligen Grabeskirche, in der manche Kapellen kaum besser aussahen als Lagerräume für allen erdenklichen Schutt – etwa die Apostelkapelle mit ihren Fresken vom Boden bis zur Decke, nun ein Müllabladeplatz für verfaultes Holz und rostige Rohre. Wie konnte das nur so verfallen, fragte sich Lucy.
    (In den kleinen, weit hinten gelegenen Höhlen der Syrer hat es einmal gebrannt – und ihre christlichen Glaubensbrüder bejubelten ihr Unglück. Die Griechen und die Franziskaner ließen Mauern und Decken lieber einstürzen, als daß sie Geld für Reparaturen ausgaben, von denen auch eine andere Religionsgemeinschaft profitiert hätte. 1834 brach in einer Kirche ein Feuer aus, und bei der panischen Flucht der Christengemeinde wurden 300 Menschen zu Tode getrampelt. In einer Kirche gab es 1852 eine tätliche Auseinandersetzung wegen der Streitfrage, wer die Türstufe fegen sollte. In einer anderen Kirche wurde in diesem Jahrhundert ein blutiger Streit darüber geführt, wer zuständig war, ein Öllämpchen auszuwechseln. Mönche brachten einander um wegen des Problems, wer welche Gegenstände polieren musste . Ein gottloser Ort!)
    Die Nachmittagsmessen begannen, und Lucy lauschte gebannt dieser Kakophonie. Mönche mit spitzen Kapuzen führten den armenischen Knabenchor unter atonalen Gesängen herein. Die Syrer versammelten sich an der hinteren Seite des Grabes und hielten eine Messe auf aramäisch ab. Auf dem Halbgeschoß, wo angeblich die »Schädelstätte« Golgatha lag, begannen die Griechen ihre Zeremonie. Die Franziskaner zelebrierten ihre lateinische Messe vor dem Eingang zum Grab, das, eingeschlossen von einer protzigen marmornen Grabkammer, unter der von Konstantin erbauten und im Lauf der Jahrhunderte mehrfach restaurierten Kuppel lag. Und zuletzt kam vom Dach die Prozession der Äthiopier, die vor dem Salbungsstein, wo der Überlieferung nach Niko demus und die frommen Frauen den Leichnam des Herrn einbalsamiert hatten, den Kopf zum Boden neigten. Die schlecht beleuchtete Kirche, in der man kaum das Deckengewölbe sehen konnte, hallte wider von Gesängen und klirrenden Weihrauchfässern, die in diesem altehrwürdigen Durcheinander den Duft des Ostens verbreiteten.
    Es dürften viele Besuche nötig sein, dachte Lucy, um dieses Labyrinth von Katakomben zu erforschen: die Adamskapelle mit

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