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Der dreizehnte Apostel

Der dreizehnte Apostel

Titel: Der dreizehnte Apostel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilton Barnhardt
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kein gutes Ackerland, kein Knotenpunkt von Handelsstraßen; überhaupt kein Anreiz für Unsere Kinder, hier eine Stadt zu errichten. Außer daß hier ein heiliger Ort ist.)
    Lucy, die hinausblickte auf die mittelalterlichen Mauern, fragte sich, ob das sonnenglühende Weiß dieser heiligen Stadt aus schimmerndem Stein nicht das Weiß von Knochen war – aus der gemeinsamen Grube von Judäern, Israeliten, Griechen, Babyloniern, Propheten und Freigeistern, Herodianern, Essenern, Römern, Christen, Moslems, Kreuzrittern, Kämpfern des Dschihad und nun Zionisten, bis heute etwa
    17.000 junge israelische Soldaten.
    (Das ist nicht die Verehrung, die Wir Uns ausgesucht hätten.)
    Lucy schloss die Augen in der warmen Mittagssonne. Es fiel ihr ein, daß sie schon eine ganze Weile nicht mehr gebetet hatte. Danke, meditierte sie, danke, Vater, Sohn und Heiliger Geist, daß ihr mich auf diese Bergspitze gebracht habt, den jüdischen, christlichen und islamischen Olymp, wo ich vielleicht selbst genau dort entlanggehe, wo die Heiligen gegangen sind.
    (Ich war froh, als er sagte: Lasse uns eingehen in das Haus des Herrn. Wir werden den Fuß nicht mehr vor deine Tore setzen, o Jerusalem.)
    Lucy drehte sich um und sah O’Hanrahan mit einem Kellner reden; wahrscheinlich bestellte er neue Getränke. Schließlich kam O’Hanrahan heraus, stellte sich neben Lucy an die Balustrade und sah auf die Uhr. »Dr. O’Hanrahan«, sagte Lucy. »Lucy«, begann O’Hanrahan im selben Augenblick. Lucy bedeutete O’Hanrahan mit einer Geste, er solle zuerst sprechen.
    »Nun«, seufzte O’Hanrahan und blinzelte, »der große Rabbinermeister hat recht. Wir sind im Niedergang begriffen, Luce. Quaeque ipse miser rima vidi, et quorum pars magna fui.«
    »Ich kann nicht wi dersprechen. Auch ich selbst ha be alles überaus Elende gesehen und bin ein großer Teil davon gewesen.«
    »Wir sollten zu unserer beruflichen Distanz zurückkehren.«
    »Wie Sie wollen.« Er zog eine Augenbraue hoch.
    »Wie Sie wollen, Sir«, verbesserte sich Lucy. »Haben Sie schon Kontakt zu Pater Vico aufgenommen?«
    O’Hanrahan kratzte sich am Kopf. »Ich habe ihn von Haifa aus angerufen und die Auskunft erhalten, daß er bei den Franziskanern im Heiligen Grab ist. Ich nehme an, das ist besser, als wenn er sich in einem der franziskanischen Kitschbauten im Heiligen Land versteckt hätte.« O’Hanrahans Meinung über das Gesicht der Heiligen Stadt war völlig anders als die Lucys. Sie hatte die Ehrfurcht des Neulings; O’Hanrahan war empört und schimpfte über die abscheulichen, geschmacklosen neueren Bauten in Israel, für die sich vor allem die unersättlichen Franziskaner starkgemacht hatten: die Katharinenkirche neben der Geburtskirche mit ihrer größten Attraktion, einer rotbäckigen Babypuppe aus Porzellan in einer Krippe, die ganze Busladungen von Touristen zu Tränen rührte und von der überall in der Stadt Nachbildungen verkauft wurden. Ganz in der Nähe die Milchgrotte, eine Höhle mit einem kalkigen, weißen Puder, den man von den Mauern kratzte und als Tropfen von Marias Muttermilch verkaufte. In der Kapelle standen eine mannequinartige Maria mit entblößten Brüsten und in einer anderen Ecke noch eine lebensgroße Plastikmaria mit Joseph und dem Esel. Die moderne Betonkirche Dominus flevit, an der Stelle, wo Jesus angeblich weinte. Die Baumwollschäfchen in der Kirche der Schäfer auf dem Feld. Die moderne Verkündigungsbasilika in Nazareth, die aussah wie eine Flughafenhalle; und ganz zu schweigen von den modernen Einbauten der Franziskaner ausgerechnet in der uralten Grabeskirche, wo sie eine Orgel einbauen ließen, um d ie Messen der anderen Religions gruppen zu übertönen.
    O’Hanrahan ließ den Katalog ästhetischer Abscheulichkeiten damit ein Ende haben und wandte sich Wichtigerem zu. » Heute Abend sollte ich wohl dem Rabbi meine Reverenz erweisen und ihn beschwichtigen, damit ich neue Abzüge von den Fotos bekomme«, meinte er.
    »Glauben Sie, er meint es ernst, daß er Ihnen keine mehr geben will?«
    »Ach, er war nur verärgert«, sagte O’Hanrahan nicht gerade überzeugend. Er versuchte, den Motor seines Gehirns anzuwerfen: »Ja, es ist genau das richtige Wetter, finden Sie nicht? Genau richtig zum Arbeiten – und ich bin ungeduldig, wieder hineinzukommen, Miss Dantan. Wir sind schlaff geworden, nicht?« Lucy pflichtete ihm bei.
    Ein Kellner in knapp sitzender Uniform kam über die Terrasse zu Dr. O’Hanrahan: Es sei ein Anruf für ihn da, ein

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