Der dreizehnte Apostel
schleifen. Er rief etwas, dann hörte man einen lauten Knall. Der Ältere war hinterhergerannt und hatte noch einen Stein geworfen, der den Kofferraum einbeulte. Der nächste Stein traf die Heckscheibe.
»Verdammt!« O’Hanrahan duckte sich.
Der Junge, der an Lucys Tür hing, hatte immer noch nicht losgelassen. Der Rabbi bremste abrupt, und der Kleine wurde in den Graben geschleudert, landete auf den Steinen, und sein Kopf stieß gegen einen Felsbrocken. Lucy war sicher, daß er ernstlich verletzt war. »Rabbi, er ist wahrscheinlich …«
»Zur Hölle mit ihm!« rief der Rabbi und raste weiter, bevor noch mehr passierte.
Lucy fing an, nervös zu stammeln. »Ich hatte keine Schekel, die ich ihnen hätte geben können«, sagte sie, als wäre sie verantwortlich für den Vorfall.
»Warum hätten Sie diesen Rohlingen irgendetwas geben sollen?«
»Der Junge ist schwer verletzt worden«, bemerkte O’Hanrahan ruhig. Er spürte einen warnenden Schmerz in seinen Händen und Füßen, verursacht durch die nervliche Belastung.
»Was?« fauchte der Rabbi. »Willst du zurück und es mit Mund-zu-Mund-Beatmung bei ihm versuchen?«
»Ich habe ihn nicht verteidigt«, entgegnete O’Hanrahan angespannt. »Aber sie werden zurück in ihr Dorf rennen, und wir werden nicht besonders sicher sein, wenn das erste Dorf, durch das wir kommen, die Nachricht telefonisch bis zum letzten wei tergibt, so daß die Palästinenser uns überall schon erwarten …« »Ich hatte nicht vor, in der nächsten Ortschaft herumzutrödeln.«
Lucy sah auf ihre zitternde rechte Hand. Sie hielt sie mit der linken fest, aber beide waren vollkommen kalt und blutleer. Sie kauerte sich auf dem Sitz zusammen und starrte auf den Boden. Wie entsetzlich war das alles. Dieser ganze nackte, ziellose Hass . Und sie hatte recht mit ihrer Vermutung, daß es Tausende solcher junger Männer gab, aufgewachsen in Flüchtlingslagern, verarmten Wohnstraßen und Slums, für die von der israelis chen Regierung keinerlei Verbes serungsmaßnahmen beabsichtigt waren, und es würden immer mehr werden, bis die israelische Armee jeden von ihnen umbrachte oder bis sich die arabische Welt erhob und jeden einzelnen Israeli beseitigte – oder bis man eine utopische Politik der Nächstenliebe zu praktizieren versuchte.
Bald erreichten sie das erste Dorf. Der Zustand ihres Wagens ließ offensichtlich erkennen, daß es Ärger gegeben hatte, und das schien die Anwohner zu animieren, noch mehr Ärger zu machen. Zwei Teenager warfen mit Steinen von einem sorgfältig aufgehäuften Vorratslager am Straßenrand nach dem Auto und zertrümmerten ein Rücklicht. »Ah ja, deswegen nehme ich nie mein eigenes Auto«, murmelte der Rabbi, der wieder seltsam gelassen wirkte. »Warten Sie nur, bis die Wartungsmechaniker sehen, was wir da zurückbringen.«
Sie näherten sich dem nächsten Dorf, und Lucy sah drei kleine Mädchen mit Steinen in der Hand, die sie offensichtlich werfen wollten. Der Rabbi lächelte ihnen zu und hob tadelnd den Finger – nein, nein, nein! –, und sie gehorchten.
Lucy starrte wieder zu Boden und wünschte, sie könnte durch ein Wunder aus dieser West Bank fortgebracht werden – nein, fort aus Israel. Ich würde morgen am liebsten in ein Flugzeug steigen, dachte sie. Von irgendwoher flog ein Stein auf das Autodach. Sie schrak nicht einmal mehr zusammen oder sah sich um, wer ihn geworfen hatte und woher er kam. Bitte, Herr, lasse das bald vorbei sein.
(O weh. Beit Shair liegt vor euch.)
»Dort ist ganz sicher die Armee«, sagte der Rabbi und steuerte auf das Dorf zu, das sie auf dem Hinweg vermieden hatten. Lucy sah die Straßensperre vor ihnen. Israelische Soldaten, schlank und arrogant, hielten den gesamten Verkehr an.
»Sagen Sie den Soldaten Bescheid über den verletzten Jungen?« fragte Lucy.
»Ja, ich sage den Soldaten Bescheid über diese Rowdys«, erwiderte der Rabbi.
Lucy war klar, daß diese Soldaten, die mittlerweile weltweit berüchtigt dafür waren, wie sie verdächtige palästinensische Unruhestifter behandelten, mit den Jungen oder ihren Familien nicht gerade sanft umspringen würden. Man würde sie in den Akten vermerken, streng verwarnen, vielleicht für eine Nacht ins Gefängnis stecken, die Familien erkennungs dienstlich behandeln.
»Vielleicht sollten wir gar nichts sagen«, meinte Lucy unsicher.
Rabbi Hersch hob resigniert die Hände. »Sehen Sie sich das Auto an! Sie werden fragen, was passiert ist.«
»Ich weiß nicht«, stammelte Lucy, »aber
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