Der dreizehnte Apostel
Cosmas von Majuma, Aphrodi sius, Johannes dem Schweigsamen. Was weiß heute noch jemand von ihrer untergegangenen byzantinischen Welt?)
»Curzon, der große viktorianische Forscher«, erklärte O’Hanrahan in der Hoffnung, die Stimmung aufzuheitern, »sagte, die Klosterbibliothek von Mar Saba gehöre zu den besten im Nahen Osten. Er sah dort antike Schriftrollen, die seither verschwunden sind; er erzählte, daß er dort 1500 Jahre alte Texte auf Tischen herumliegen gesehen habe, als seien es Lumpen oder Handtücher. Er selbst verschwand mit einem Alten Testament aus dem 9. Jahrhundert. Habe ich von meiner Arbeit an der frühen Fassung des Markusevangeliums erzählt, die man 1958 hier gefunden hat?«
»Ja«, antwortete Lucy, ohne unhöflich sein zu wollen, erzielte aber genau diese Wirkung.
Das ummauerte Kloster war aus Gründen der Verteidigung an den Rand eines Felsens gebaut und hing über dieser trockenen Schlucht, in der ebenfalls weder eine Pflanze noch ein Baum zu sehen waren. Von dem Felsvorsprung aus knipste Lucy eifrig die byzantinischen Kuppeln der Nikolauskirche innerhalb der Mauern.
Schon wieder diese verdammten Männer, die die Frauen immer ausschließen müssen. »Sie können natürlich nicht mit hinein«, sagte O’Hanrahan, der darüber besorgt schien. Es war in der Tat offensichtlich, daß er nach dieser doch etwas bedrohlichen Fahrt lieber nicht hier gewesen wäre und auch Lucy nicht gerne hier sah. Keine Sehenswürdigkeit in diesem Kloster war die Gefahr wert. Dieser ganze Tag, dachte O’Hanrahan, ist eine Übung meines Freundes Mordechai in israelischem Chauvinismus; er hat darauf bestanden, sein droit de seigneur in den besetzten Gebieten zu demonstrieren.
Endlich kam ein Mönch, um die Männer nach drinnen zu führen. »Wir könnten vielleicht abwechselnd hineingehen«, meinte der Rabbi. »Nein, wirklich, Sie gehen beide hinein«, erklärte Lucy und spielte die Tapfere. »Hier ist schließlich absolutes Niemandsland. Ich mache noch ein paar Fotos und setze mich dann ins Auto.«
O’Hanrahan stimmte zu. Er zögerte, als wolle er etwas sagen, vielleicht, daß sie sich ins Auto einschließen sollte, aber er wollte sie nicht ängstigen. »Hupen Sie, wenn Sie uns brauchen«, meinte er nur.
Dann traten er und der Rabbi durch die Tür, auf der Suche nach den nur Männern vorbehaltenen Geheimnissen hinter den Mauern.
Lucy spazierte weiter am Rand der Schlucht entlang und machte ein paar Landschaftsaufnahmen. Dann knipste sie noch einmal Mar Saba, wie es über dem Abgrund thronte. Wirklich sehr exotisch. Genauso, wie man sich ein Kloster in der Wüste vorstellte. Aber als sie einen Blick zurück auf die Straße warf, auf der sie hergekommen waren, sah sie die beiden Araberjungen näher kommen. Wer weiß, dachte sie beklommen, sie wollen vielleicht wirklich hierher. Dann sah sie in der Ferne noch zwei jüngere, die den anderen hinterherrannten. Sie sind zurück ins Dorf gegangen, haben von dem beleidigenden Juden am Steuer erzählt, der diese Sackgasse hinuntergefahren ist, und jetzt kommen sie und wollen Ärger machen, stellte Lucy sich vor.
Langsam kletterte Lucy die Abkürzung über die glatten, sandigen Felsbrocken hinauf, anstatt den Weg entlangzugehen. Das Geschrei der Jungen war schon zu hören. Sie läutete heftig an der blauen Tür. Sollte sie warten oder zum Auto gehen? So wie sie die Mönche kannte, würden sie ihr den Zutritt verwehren …
(Geh zum Auto, Lucy.)
Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und verriegelte alle Türen. Vielleicht war sie in unnötige Panik geraten. Vielleicht arbeiteten die Jungen im Kloster, fegten den Boden oder halfen im Garten; immerhin war jeder Araber, den sie bisher kennengelernt hatte, freundlich und großzügig gewesen. Plötzlich kam ihr wieder das Flüchtlingslager in den Sinn, die Jungen, die auf das vorbeifahrende Auto gespuckt hatten …
Die Araberjungen winkten ihr mit fordernden Blicken zu. Sie versuchten, die Tür an der Fahrerseite zu öffnen, und bedeuteten ihr, sie solle aussteigen oder sie hereinlassen. Klar, dachte Lucy, deren Herz schneller pochte, ich bin genau in der Laune, mich heute Nachmittag von vier schmutzigen palästinensischen Teenagern vergewaltigen zu lassen, nein danke
…
»Schekel!« schrie der Jüngste durchs Fenster.
Er wollte Geld. Er hämmerte mit der kleinen Faust
gegen das Fenster:
»Schekel! Schekel!«
Dann kam der nächste, ein vielleicht Vierzehnjähriger, an ihr Fenster:
»Schekel! Schekel!«
Der
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