Der dreizehnte Apostel
länger auf als die anderen, damit niemand das Feuer löschen konnte. Dort in Korea, wo er zusammen war mit Janitscharen, Buddhisten, Wiedergeborenen und Atheisten, bewachte er die ewige Flamme. Einmal hätte er beinahe einen betrunkenen Jordanier umgebracht, der ins Feuer pinkeln wollte, um es zu löschen.« »Ein Fehler, der mir kaum unterlaufen wird«, meinte Lucy. Sie streckte ihre Hände gegen das Feuer und betrachtete sie: schmutzige Fingernägel; im Feuerschein sahen die Hände aus wie die einer alten Frau. »Ich weiß nichts über die Zoroaster, Dr.
O’Hanrahan. Ich wusste nicht einmal, daß es noch Leute gibt, die an Zarathustra glauben.«
»Ein paar sind noch übrig. Und sie haben noch einen Brauch, den ich mag. Die Juden hatten diesen Brauch früher auch in gewissem Maß, aber die Zoroaster haben ihn ganz ernst genommen: Wenn man stirbt, ist man drei Tage lang noch nicht wirklich tot.«
»Wie?«
»Der Körper ist tot, aber die Seele verweilt drei Tage lang inmitten von Familie und Freunden. Wenn es etwas gibt, das man mit dem Dahingeschiedenen noch klären will, hat man drei Tage Zeit, um es auszusprechen: sich zu entschuldigen oder dem Toten zu sagen, wie sehr man ihn geliebt hat. Nach drei Tagen findet dann eine Feier statt, bei der man offiziell Abschied nimmt.«
Lucy zog ihre Jacke fester an den Körper und meinte: »Dieser Brauch gefällt mir auch. Wenn man an all die katholischen Mamas denkt, die Kerzen anzünden und jammern, daß sie ihren lange verstorbenen Familienmitgliedern nie gesagt haben, wie sehr sie in ihren Gefühlen immer gegenwärtig waren. Aber«, seufzte Lucy, »auch wenn es drei Tage sind, man muss Abschied nehmen.«
Dr. O’Hanrahan sah ins Feuer und dachte daran, wie es gewesen war, als Beatrice und Rudolph gestorben waren. Wie hatte er diese drei Gedenktage abgehalten? Tag eins: in einer Bar. Tag zwei: Übelkeit und neuen Alkoholvorrat kaufen. Tag drei: sich wieder betrinken und das Wohnzimmer in Stücke schlagen, die eingerahmten Fotos, die kitschigen Familien Erbstücke in dieser vornehmen Glasvitrine … Ein stolzer Anblick. Gnadenlos fragte O’Hanrahan sich selbst: Glaubst du, sie hätten dich gehört, wenn du diese von den Zoroastern bewilligte Zeit gehabt hättest, diese drei Tage – hätten sie gehört, wie sehr du sie geliebt hast? »Dr. O’Hanrahan?« Er schluckte und holte tief Luft. »Hm?«
»Ich habe nur gemeint, daß Sie im Sitzen eingeschlafen sind. Sie waren plötzlich so schweigsam.«
»Nein«, erwiderte er und stand mühsam auf. »Aber schlafen ist kein schlechter Gedanke. Gehen Sie ins Zimmer. Guten Abend, gute Nacht, ins Bettlein gebracht … Mit Näglein besteckt – passen Sie auf, hier gibt es Skorpione.«
»Na großartig: Skorpione«, brummte Lucy und stand auf. Zu ihrer Überraschung nahm O’Hanrahan ihren Arm und führte sie. »Nach dem heutigen Tag werde ich von Dschinns träumen.«
Vor dem Gästehaus brannte eine fluoreszierende Lampe, umschwirrt von Moskitos, Fliegen und Mücken . »Home, sweet home«, sagte O’Hanrahan. »Sprühen Sie sich noch einmal ein, und legen Sie sich unter das Moskitonetz. Ich bleibe wohl noch ein Weilchen auf.« Lucy stand da und hatte das Gefühl, daß sie noch etwas sagen sollte. O’Hanrahan hatte offensichtlich das gleiche Bedürfnis. »Jetzt sind Sie hier im gottverdammten Sudan. Sie schlafen auf einer von Flöhen zerbissenen Matratze. Womöglich bekommen Sie Typhus oder Cholera. Sandstürme. Wenn alles schiefgeht, verzeihen Sie mir.«
»Dr. O’Hanrahan …«
»Nein, ich fühle mich verantwortlich. Was ist, wenn wir dieser Schriftrolle nie auf den Grund kommen? Wenn das alles vergeudete Zeit ist …« In dem fluoreszierenden blauweißen Licht wirkte O’Hanrahans Gesicht wie eine Totenmaske oder eine orientalische Tragödienmaske.
»Dr. O’Hanrahan«, begann sie, »um nichts in der Welt möchte ich morgen den Markttag in Dongola verpassen. Ich komme nicht sehr oft in die Hauptstadt von Nubien. Vielleicht kann ich hier an irgendetwas sterben. Aber ich möchte lieber hier sein als sonst irgendwo auf der Welt.« Nein, das war nicht alles, was sie gemeint hatte. »Mit Ihnen«, fügte sie hinzu. »Und lachen Sie nicht. Aber ich glaube, Gott ist mit uns.« Darauf sagte O’Hanrahan erst einmal nichts.
»Ich glaube«, fuhr Lucy fort, »Allah, oder wie immer er hier in dieser Gegend heißt, ist mit uns und will, daß Sie diese Schriftrolle entziffern.« Der Professor war gerührt, ließ das Gefühl aber nicht
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