Der dritte Berg
zuwarten. Flüsterstimmen. Handlungsalternativen werden erwogen. Und Sekunden später wird mir die daraus entsprungene Entscheidung vorgeführt. Die Lampe vor sich schweifen lassend läuft ein Mann den Hügel hoch, in meine ungefähre Richtung, während der andere unten Stellung bezieht. Ich glaube schon, es ist um mich geschehen. Doch der Mann stampft an mir vorbei, immer weiter, immer höher. Offensichtlich hat man kein Gefühl für genaue Entfernungen in dieser Stille und Dunkelheit. Das ist meine nächste Chance. Ich renne los, will hinüber zum Fahrweg, der dort ein Stück den Hügel hinaufläuft. Ich sprinte die Hügelflanke entlang, in Richtung meines Landhotels. Ich weiß, wie man beim Rennen seine Knöchel steif hält, um nicht so leicht umzuknicken. Ich kann die Rufe der beiden hören, die ebenfalls laufen. Sie mögen dreißig Meter hinter mir sein, Abstand sich vergrößernd. Der Lichtkegel springt ständig durch den Wald. Und ich laufe nicht weiter in die vorgegebene Richtung, sondern hinaus auf die Wiese. Das werden sie am wenigsten erwarten. Ich verstecke mich im dichten Unterholz des Waldrands, nachdem ich auf Knien und Ellbogen wieder etwa dreißig Meter auf die Maettgen’sche Villa zugekrochen bin. Oberhalb von mir höre ich Schritte, Schreie, Fluchen. Einer rennt noch.
Ich kauere im Gras und friere auf dem kalten, nachtfeuchten Boden. Mit Eisfingern kriecht die Kälte durch meine Jeans, bis ich zu zittern beginne. Die Nacht ist sternenklar und die Temperatur nähert sich bereits dem Nullpunkt. Vor mir auf der Wiese färben sich die Halme langsam weiß mit Rauhreif. Eine Viertelstunde sitze ich so in der Dunkelheit und wage keine Bewegung. Nichts geschieht. Irgendetwas muss doch geschehen.
Auf der Age of Reason führte eine Gangway nach vorne zum verrosteten und an diesem Abend mit einer dünnen Schicht matschigen Eises überzogenen Backdeck. Das Schlauchboot war dort weit unten. Wir frieren. Im Boot ist es noch kälter gewesen. Wir haben jeder einen GPS -Sender am Handgelenk und hoffen, der Kreuzfahrer wird seine Position nicht überraschend verändern. Lichter jedenfalls sehen wir keine vor uns. Christa ist an mich gedrückt, Joshua ist in Gedanken versunken, und Pedro, der das Boot steuert, sitzt unsichtbar hinter uns, wo die Motoren brummen wie alte, defekte Kühlschränke. Eine halbe Stunde Kälte und Nacht, eine halbe Stunde allein mit der Antarktis, die in unseren Köpfen nahe, doch in Wahrheit über tausend Meilen entfernt ist. Eine halbe Stunde wie diese hier, bevor die weiße Wand des Kreuzfahrers vor uns auftaucht und seine Lichter uns beinahe blenden. Auf der Rückfahrt dann schüttelt es uns vor Kälte und vor Freude, darunter eine Menge Angst. Angst, ob wir die Age of Reason auch wiederfinden und erreichen werden mit dem begrenzten Treibstoff der Motoren, in der zwei Meter hohen Dünung und den beginnenden Gischtrücken der Wellen; der Wind hat aufgefrischt.
Ohne Regung liege ich im Gras, bis ich einen Schatten sehe, der sich auf das Haus zubewegt. Ich bin sicher, dass der andere schon vorher gegangen ist, und mache mich bereit, meine Stellung aufzugeben. Als ich ein paar Meter aus meinem Versteck gekrochen und soeben im Begriff bin, mich aufzurichten, steigen vor mir zwei breite Männer aus dem Wald. Kalter Schweiß beginnt mir über den Rücken zu perlen.
Man spricht. Einer sagt: »Der is weg. Wir nehmen uns die Straße vor. Niko und seine Leute haben Posten bezogen. Den kriegn mir schon.«
»Welche Karre?«, fragt der andere.
»Lexus, perlweiß «, antwortet der eine und lacht.
»Hahaha«, auch der andere. »So a bunter Hund.«
Ich knie da, ein Holzstück, steif, ohne Atem. Die Stimmen entfernen sich. Und es gibt ein ganzes Rudel von diesen Typen, Bayern offenbar, die auch noch meinen Wagen kennen. Rehauge muss mich auf dem Parkplatz vor dem Max-Planck-Institut beobachtet haben. Meine österreichische Nummer hat sie nicht gesehen.
Ich verharre noch einige Minuten in meiner unbequemen Stellung. Dann krieche ich hinauf zum Weg und gehe zurück zum Hirschen. Im Hirschen laufe ich auf mein Zimmer, entledige mich meiner grasfleckigen Klamotten, kleide mich neu an und packe. Ich zahle einer überraschten Wirtin das Zimmer und laufe hinaus zum Wagen. Ich starte den Motor, lasse die Scheinwerfer jedoch dunkel, stelle die Innenraumbeleuchtung kurz an und werfe einen Blick auf die Karte. Ich besitze kein Navigationsgerät. Ein eiserner Grundsatz für jemanden, der kein Interesse
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