Der dritte Berg
daran hat, die Orientierungsareale in seinem Neocortex für alle Zeiten stillzulegen. Und wenn es darauf ankommt, heute Nacht beispielsweise, ist so ein dämliches, sprechendes Ding ohnehin nutzlos. Ich schalte mein Mobiltelefon ab, um nicht geortet werden zu können. Langsam fahre ich aus dem Parkplatz hinaus zur Fischbacher Hauptstraße. Es ist eine einsame Straße, hingestreckt zwischen Wiesenhängen. Ein paar Häuser stehen hier nur. Auf einer kleinen Kuppe befindet sich eine Kapelle.
Alle vier von hier weiterführenden Straßen muss ich meiden: die Straße, die hinauf Richtung Freiburg oder hinab an den Rhein läuft, die Straße nach Grafenhausen, jene nach Lenzkirch, und schließlich die Straße nach Bonndorf, welche hinter Maettgens Villa vorbeiläuft. Überall dort kann man jemanden postiert haben. Da wird Aufwand betrieben. Hätte ja nur gerne gewusst, wofür.
Jedes Jahr verbringt Christian ein paar Monate in Indien, wo er in halb vergessenen Tempelbibliotheken oder den Privatbibliotheken von Pandits hockt, in denen Tausende alter Manuskripte lagern, zwischen Fledermausdreck und weißen Ameisen. Manuskripte, von denen niemand etwas weiß. Schon als Student hat Christian sich in Indien herumgetrieben, und diese Neigung hat er zur beruflichen Spezialität gemacht. Angefangen hat es mit einer Handschrift in schlechtem Sanskrit, die es erlaubt, die verloren geglaubte antike Denkschule der indischen Materialisten zu rekonstruieren. Damit hat Christian sich Dissertation und Habilitation verdient und ist süchtig geworden nach mehr. Mittlerweile besitzt er einen weltweiten Ruf in der Gemeinde der Indologen und Asienhistoriker. Kurz vor der Heirat mit Maggie hat er einen zuvor völlig unbekannten, anatomischen Text aus dem frühen Mittelalter entdeckt, das Pindavivaranasutra . Das für wenige Rupien erstandene Originalmanuskript hat er Maggie zum Geschenk gemacht. Mit diesem Text hat Christian begonnen, sich ganz auf die altindische Medizin, den Ayurveda, zu spezialisieren. Und er sucht gezielt Manuskripte zu diesem Gebiet. Es muss da in den letzten Monaten etwas gegeben haben, das es rechtfertigt, eine Zeitlang abzutauchen und niemandem ein Sterbenswörtchen zu sagen. Ich klammere mich an diesen Gedanken, bloß damit ich nicht völlig in einem Meer von Sätzen versinke, die alle mit vielleicht und möglicherweise beginnen.
Ich lasse meinen Wagen die Hauptstraße hinunterrollen und nehme schließlich eine kleine Straße, welche steil hinauf zu einem winzigen Weiler namens Hinterhäuser führt. Bei der ersten Gelegenheit biege ich links in ein weiteres kleines Asphaltsträßchen, das durch dunkle, hohe Fichtenbestände führt, auf die nun Regen einzuprasseln beginnt. Ich fahre mit nicht mehr als zwanzig Kilometern die Stunde in Richtung Norden und lasse hin und wieder die Scheinwerfer aufblitzen. Irgendwo wird sich hier doch ein Plätzchen für die Nacht finden lassen. Am Morgen ist der Testosteronspiegel dieser Typen bestimmt wieder auf Normalniveau.
Der Regen nimmt an Heftigkeit zu. Ich entscheide mich für einen engen, grasbewachsenen Fahrweg, der auch bei Tageslicht kaum einsehbar sein kann. Ihn zuckle ich zweihundert Meter weit entlang, stelle den Motor ab und steige aus dem Wagen. Es riecht nach Harz. Ich lege die hinteren Sitze um und räume mein Gepäck nach vorne. Dann nehme ich meine Decke, ziehe mir einen Pullover über und benutze Decke und Jacke als wärmende Schichten. Ich öffne das Fenster einen kleinen Spalt weit. Der Schlaf kommt nicht. Es ist eng, meine Nerven vibrieren. Und der Regen trommelt ein Dauerfeuer auf das Autodach.
Gegen zwei Uhr schlafe ich erschöpft ein und erwache kurz vor sieben. Der Regen hat aufgehört. Eine weißflüssige Metallkugel liegt dort, wo gestern noch mein linkes Auge gewesen ist. Ich träufle die Cortisonlösung in beide Augen und nehme wieder ein Schmerzmittel. Eine ganze Stunde bleibe ich noch im Wagen liegen.
Schließlich springe ich mit einem Satz auf; ich stelle die Sitze wieder zurück, fahre hinaus auf die Straße, nehme jetzt aber nicht die Richtung direkt hinab zum Rhein, sondern wähle eine Strecke, die mir weniger vorhersehbar erscheint.
Gegen Mittag passiere ich Lindau. In Bayern herrscht Föhn. Die Luft ist aus Glas. Ich spüre keine Angst. Ich habe eine Aufgabe. Maggie und Christian (vielleicht wird er gegen seinen Willen festgehalten, dieser Gedanke quält mich an diesem Morgen) zermalmen jede mögliche Furcht.
II
NEBEN RENAISSANCEMALEREI hat
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