Der dritte Berg
Maggie, deren Wohnung vollgehängt ist mit wertvollen Drucken und mit Originalskizzen von Caravaggio, van Eyck, Raffael und Holbein, noch einer anderen Leidenschaft gefrönt: der italienischen Küche. Für eine Britin das höchste erreichbare kulinarische Gut und darüber hinaus Teil eines privaten Feldzuges gegen ihren Vater, der Italien ebenso leidenschaftlich verachtet. Bei einem Abbacchio brodettato , einem Lamm in Zitronensauce, extra für mich zubereitet, und ein paar Gläsern unpassenden tawny- Portweins schüttelt Maggie ihr schönes blondes Haar und hört nicht mehr auf, über Christian herzuziehen. Die Scheidung liegt zwei Monate zurück. »Der Mann macht dich verrückt«, sagt sie. » How I abhor this calvin-infestet megalomanic!«
Ich lasse bereits Salzburg rechts liegen und fahre weiter nach Osten. Und dann dieser Ausflug an den Gardasee. Nur widerwillig habe ich mich einverstanden erklärt, die beiden zu begleiten, ich bin wohl als Waffenstillstandszone mitgenommen worden. Und es wird das einzige Wochenende, das ich je mit Maggie außerhalb Wiens verbringe. Es ist kühl und windig in San Felice del Benaco, es ist der April vor zwei Jahren. Am zweiten Abend im Restaurant bricht unerwartet der Frieden. Plötzlich stehen da mehrere Flaschen Lambrusco (man servierte keinen Portwein), alle leer, auf unserem Tisch herum und wir nähern uns bedenklichen Zuständen von Trunkenheit, Offenheit und Beleidigung. Wir streiten über alles, das wir anfassen. Christian ist laut, er erzählt von seinen Reisen in Indien, von den Bibliotheken bekannter Pandits, er macht seine Augen klein und bläst sich auf, und Maggie und ich fallen über ihn her. Christian Fust, die Inkarnation des europäischen Genius, liegt zerfetzt am Boden. Am Ende steht er auf, streckt seine lange Gestalt und setzt sich allein an die Bar.
Irgendwo in diesem langen Abend ist die Lösung von Maggies Rätsel verborgen. Ich nehme mir vor, eine möglichst genaue Liste aller Gesprächsthemen aufzustellen und so meine Erinnerung Stück für Stück zusammenzufügen.
Lange danach, an dem Abend mit dem Zitronensoßenlamm, macht Maggie mich zum einzigen Mal richtig an. Sie steht auf, schon ein wenig im Kampf mit der Gravitation und ihrer exakten Ausrichtung auf den Erdmittelpunkt hin, und zieht sich einfach vor mir aus. Ein schiefes, verschmitztes Lächeln im Gesicht, als wären wir Kinder und die Eltern in der Oper. Ich habe mich Maggie nicht entziehen wollen, ich liebte sie ja. Sie ist der beste Freund gewesen, den ich je gehabt habe. Sie zieht mich also, inzwischen ganz nackt, nur noch eine Perlenkette um den Hals, knochig wie sie war, nicht schön, aber sehr hübsch anzusehen (vornehm fließend in allen ihren Bewegungen), an der Hand in ihr Schlafzimmer und sagt: »Ich liebe dich, Prinz, nicht wie du fürchtest, aber ich bin deiner Seele nahe, und ich brauche dich heute Nacht. I need a reasonable guy, completely fucking reasonable .« Da habe ich mich meiner Freundschaft erinnert, des Eids, den man ja irgendwann bei sich geschworen hat. Und auf ihre Weise wird es die einzigartigste Nacht meines Lebens. Sex ohne Anziehung; ein naturwissenschaftlicher, heiliger Akt.
Späte Abenddämmerung. Nirvanas Bass in Come as You Are dröhnt durch meinen Wagen, als ich bei unserem Haus in den Hügeln vor Wien anlange.
Wie immer ist vorne alles hell erleuchtet. Strahlende Einsamkeit. Ich schleiche am Haus vorbei, eine dumme Maßnahme vielleicht, aber ich will ganz sichergehen, schalte meine Scheinwerfer aus und biege nach rechts in einen kleinen Fahrweg. Linker Hand befindet sich eine Gruppe von Kirschbäumen. Wie Gerippe stehen sie im Halbmondlicht. Ich stelle den Wagen an einer großen Buche ab. Durch eine einfache, stets offene Zauntür betrete ich den großen Garten. In ihm habe ich meine Kindheit verbracht. Der noch nicht vorhandene Duft der Winterligusterbüsche, der Eibenhecken, einiger Rhododendren, der Schilfgräser und Pfirsichblüten, des gemähten Grases, der Vergissmeinnichtecken und Krüppelkiefern zieht in meine Nase. Ich sehe mich weinend in Brennnesseln liegen und meine Mutter Helene an einem Sommerabend auf der großen Schaukel Sekt Orange trinken. Sie trank immer bloß Sekt Orange und es hat ihr am Ende nicht geholfen.
Ich drücke mich an den beiden Gartenlaternen vorbei und gehe auf das Haus zu. Ein Schatten löst sich von der Platane, die meine Mutter hier vor neununddreißig Jahren gepflanzt hat, anlässlich der Geburt meiner Schwester
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