Der dritte Berg
weckt mich ein Anruf von der Rezeption. Es sei von größter Dringlichkeit. Man bitte mich, sofort nach unten zu kommen. Ich verlasse mein Zimmer, draußen auf dem Korridor ist es dunkler als sonst. Jetzt ist tatsächlich die Notbeleuchtung an. An der Rezeption – der Tag beginnt träge, mit einem Dunstschleier über dem Meer, auf dem eine dunkelgelbe Schwefelschicht vibriert, den die gerade aufgehende Sonne auf ihn legt, eine Dunstbank, die sich in die offene Lobby hereinzieht und die Sicht bedenklich trübt – befindet man sich in gemessener Aufregung. Ein schlaksiger Herr, der andauernd lässig nickt, sodass man befürchtet, gleich werde ihm von so viel unsolider Bewegung der Kopf von den Schultern fallen, teilt mir mit, man habe kurz vor sechs Uhr einen alarmierenden Anruf aus Zimmer 317 erhalten, von Frau Sophia Tanzner. Der sich darum sorgende Concierge (die Sicherheitsleute seien gerade unabkömmlich gewesen, da zur selben Zeit der Strom ausgefallen sei, und das Schwierigkeiten mit den Sicherheitstüren mit sich ziehe) habe jedoch eine offenbar zuvor friedlich schlafende Dame geweckt. Dasselbe sei eine halbe Stunde später noch einmal passiert. Doch dann habe Frau Tanzner ihre Tür nicht mehr geöffnet und der Mann vom Zimmerservice (jetzt nicht der Concierge) habe sich genötigt gesehen, die Tür zu öffnen. Er stellte fest, dass Frau Tanzner, eine bloße Minute nach dem Notruf, sich nicht mehr in ihrem Appartement befand. Und so verhalte es sich immer noch. Es scheine aber, sie habe ordnungsgemäß ein paar Sachen zusammengepackt. Man habe erst mit mir sprechen wollen, bevor man die Polizei verständige, da ich doch, wie dem Rezeptionisten mitgeteilt worden sei, mit der Dame gereist sei und auch mit ihr gespeist hätte.
Vor so viel beobachtender Fürsorglichkeit wird mir eine Viertelsekunde lang ganz warm ums Herz. Dann tue ich, was zu tun ist. Ich rufe Sophia auf dem Mobiltelefon an. Es ist abgestellt. Schließlich lasse ich Schmithausen rufen. Eine zerknitterte, gnomenhafte Gestalt (Schmithausen scheint während der Nacht zu schrumpfen) taucht zehn Minuten später, halb angezogen, halb im Morgenmantel, an der Rezeption auf und versichert glaubhaft, er wisse nicht, was vor sich gehe. Weshalb die Hotelleitung nun beschließt, die Polizei einzuschalten. Wir müssten warten. Ich lasse mich mit Schmithausen in der Lobby nieder. Ich muss unangenehme Fragen stellen.
»Xaver«, sage ich langsam, der schwefelgelbe Dunstschleier über dem Meer hat nun von innen heraus zu leuchten begonnen, und dieses Leuchten setzt sich bis zu uns hin fort, flutet die Lobby und lässt die Dinge verschwinden, sodass wir meinen, ganz allein in einer Wolke zu sitzen. »Xaver«, sage ich also, »Sie schulden mir die Wahrheit.«
»Wir alle schulden einander nichts als die Wahrheit, immerzu«, sagt Xaver Schmithausen missmutig. Er möchte notfalls ja nur mit einer ganz winzigen Wahrheit seinen Schuldenberg abzutragen beginnen.
»Warum hat Ihnen Sophia von unserem Flug nach Kalonagar erzählt? Und was verbindet Sie beide?«
»Was uns verbindet?« Schmithausen ist jetzt nicht nur missmutig, er überlegt, wütend zu werden. »Ach, lassen Sie mich«, sagt er. »Ich habe Fehler gemacht. Verfluchte Scheißfehler.«
»Eine Beichte könnte mich und das Schicksal gnädig stimmen.«
Schmithausen lehnt sich zurück (er ist vorhin bei meiner Frage nach vorne geklappt), und die Dunstschleier leuchten jetzt so grellgelb, dass ich meine Augen zusammenkneife.
»Sophia und ich arbeiten oft zusammen«, sagt Schmithausen. »Aus den schon genannten Gründen, botanische Sanskrittexte, Identifizierungsarbeit in altindischer Herbologie. Das betrifft Sophias Dissertation, und dann natürlich die gesamte Forschungsarbeit von Christian Fust. Sophia ist die Verbindung zu mir. Fust bin ich stets aus dem Weg gegangen. Ich denke, wir mögen uns nicht.« Und jetzt kommt der schwierige Teil, weshalb Schmithausen vorsorglich hustet. »Wir, ich meine, Sophia und ich, wir hatten einmal eine Affäre. Nach der Scheidung von meiner Frau, versteht sich. Wir sind uns ähnlich, wage ich zu sagen. Trotz des Altersunterschieds.«
»Und ihre Verbindung ist noch so intakt, dass Sophia Ihnen alles mitteilt«, sage ich.
Schmithausen hebt seinen Blick. »Nachdem ich Fust meine Mitarbeit bei seinem Projekt aufgekündigt habe, es hat Streit gegeben, dieser Mann ist unmöglich, ein Egomane!, da habe ich mit Sophia gesprochen. Sie mag Fust, man könnte sagen, sie ist in ihn
Weitere Kostenlose Bücher