Der dritte Berg
Mitternacht fühle ich eine Ödnis in mir, die mir körperliche Schmerzen bereitet. Macfreedom ist an und ich hasse Macfreedom. Ich will ins Netz und überlege, hinunter in die Lobby zu laufen und einen Hotelcomputer zu benutzen. Das TV -Gerät schalte ich ein, es läuft Ghosh & Co , eine kluge, bengalische Talkshow beim Tee. Rituparno Ghosh hat eine Glatze, redet mit englischen Bruchstücken durchsetztes Bengali und sieht seine Gäste an wie ein Schulmeister, und er sitzt unter einer großen Fotografie des jungen schönen Rabindranath, Rabindranath! – dennoch schalte ich gleich wieder aus. Sophia schläft wohl schon, Schmithausen bereitet sich auf sein Treffen vor, und ich bin allein mit einem großen Bett, einem großen Hotel, meiner toten Maggie und einem schwarzen Ozean vor dem Fenster. Ich betrachte die sternenlosen Flecken im Süden: Monsunwolkenwalzen. Mit Billionen Tonnen von Wasser rollen sie auf uns zu.
San Felice del Benaco. Etwas muss da gewesen sein. Am Nachmittag vielleicht. Nicht am Abend.
Am Seeufer haben wir einen Spaziergang unternommen, der unangenehme Aprilwind bläst. Maggies Arm liegt in meinem. Und Christian redet in einem fort. Während Christians Monolog lächelt Maggie mir komplizenhaft zu. Der See ist voller unentschlossener Wellen mit kleinen Gischtrücken. Doch worüber haben wir gesprochen? Worüber hat Christian gesprochen? Ich brauche einen klaren Kopf.
Langsam komme ich in ein Alter, in dem die Dinge schon passiert sind. Sie sind nicht mehr so offen, verrückbar, wiedergutmachbar wie früher. Man muss achtgeben. Man muss richtig leben.
Ich habe einen schweren Fehler begangen, Maggie einfach so Christian zu überlassen. Ich habe der Liebe keine Chance gegeben. Durch mich haben die beiden sich kennengelernt. Und damals, nach dem Zitronensoßenlamm, war unser Sex wie ein Sakrament. Vielleicht gibt es die Liebe, und vielleicht kommt sie ohne diese Gier der Verliebten aus, vielleicht ist sie so heilig, dass man sie nicht sogleich erkennt.
Mitternacht ist vorüber, als ich mein Zimmer verlasse und in der Lobby Stellung beziehe. Ich wähle ein Sofa im Halbdunkel einer Säule. Ich warte. Es wird ein Uhr, doch Schmithausen kommt nicht. Auch Maettgen ist bisher nicht erschienen. Ich glaube nicht, dass es einen anderen Ausgang gibt. Eine halbe Stunde später gebe ich auf und drücke mich hinaus auf die fast menschenleere Meerespromenade. Bloß eine Gruppe Touristen sowie Gäste einer Hochzeitsfeier kommen mir entgegen, als ich unter den schmiedeeisernen Lampen entlanglaufe. Dann bald niemand mehr. Ein paar Kilometer vor mir die bunten Lichter des Hafens von Kalonagar, der sich am Ende der Bucht in das Meer hinausschwingt. Im neunzehnten Jahrhundert haben die Briten das indische Handwerk gezielt zerstört, um ihre eigenen Waren auf dem ganzen indischen Subkontinent besser absetzen zu können. Der Blick auf den Hafen ist der Blick in einen doppelten Raubzug. Schiffe mit Beute für England legten hier ab, Schiffe mit Waren für ein verheertes Land gingen vor Anker.
Der Wind hat geringfügig aufgefrischt. Höchstens eine Woche wird es noch dauern, bevor uns die erste Welle des Monsuns erreicht. Die Atmosphäre ist schwer. Alles an der Promenade schwitzt und ist nass.
Indien schläft den Sommerschlaf. Die Affen hängen in den Bäumen, die Ochsen hocken in den Dörfern im Staub und ein heißer Wind zieht durch die offenen Tempel.
Schlaff von der Hitze setze ich mich in der schützenden Dunkelheit einer Palme auf eine feuchte Betonbank. Weit draußen blinkt ein Containerschiff, das sich dem Hafen nähert. Das Summen seiner Maschinen pflanzt sich über das Wasser fort bis zu mir.
Als hätte dieses Summen sie herbeigerufen, kommen zwei Gestalten die Promenade entlang. Ein kleinerer, vielleicht alter Mann, und ein großer, dicker. Von ferne ein lachhaftes Bild. Eine Minute später aber drücke ich mich in die Bank. Langsam kommen Schmithausen und Maettgen auf mich zu; mir bleibt nichts, als eins zu werden mit der Dunkelheit. Ganz in ihr Gespräch vertieft gehen die beiden an mir vorüber. Schmithausen fuchtelt mit seinen Armen, Maettgen ist träge, vielleicht niedergedrückt, und dazu klatschnass vor Schweiß. Maettgen weiß sich nicht zu kleiden. Er trägt eine dunkle Hose und dazu etwas, das einem Hawaiihemd gleicht. Darin sieht er aus wie ein tropfnasser Clown. Ich glaube die Worte ein viel zu hoher Preis zu hören. Schmithausen wirft sie Maettgen laut hin. Wie sonst auch hält Schmithausen
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