Der dritte Berg
Man hat sich hier mit Trägern getroffen und ist in Richtung Westen aufgebrochen. Geradewegs hinauf auf den Berg.
Wir steigen in den Wagen und fahren zurück zu der letzten Ansiedlung, an der wir vorbeigekommen sind. Wir brauchen einen Landeskundigen und zwei Träger.
Wir kommen zu einem Lepcha-Dorf, das bloß aus einer Handvoll Holzhäusern mit weiß gestrichenen kleinen Fenstern besteht, die chaletartig in den Hang gestreut sind. Kardamomfelder liegen um die Häuser herum.
Die Lepcha-Männer – sie sehen tibetisch aus und ihre Haut ist wie gegerbt – sitzen müßig vor den Häusern und trinken Hirsebier.
»Faulsäcke«, sagt Sophia leise, als wir aus dem Wagen steigen. »Sind sie bekannt für.«
»Kontemplativ veranlagt«, kontere ich.
Mehrere der Lepchas bieten sich uns als Träger an. Wir nehmen die beiden kräftigsten und nüchternsten. Ein etwas älterer, behäbiger Mann, der sich uns als Heman Dorjee vorstellt, will unbedingt unser Führer sein. Er spricht leidliches Englisch. Heman (er bittet uns, ihn so zu nennen) hat von der Expedition Christians gehört. Einer aus seinem Dorf ist unter den Trägern. Er weiß nicht, was sie wollen, aber er weiß etwas vom geografischen Ziel der Unternehmung: irgendwo in der Region hinter dem Dorf N. Das ist zwar nicht sonderlich präzise, aber mehr als wir zu hoffen gewagt haben.
Wir lassen unseren Wagen im Lepcha-Dorf. Wir packen unsere Sachen für die Träger in fachgerechte Bündel. Die Lepchas schultern unser Zelt, ihr eigenes, den gesamten Proviant und Sophias Sachen. Meine Ausrüstung trage ich selber.
Schließlich steigen wir vom Dorf den Hügel hinunter. Unten nehmen wir eine mit großen Steinen ausgelegte Furt über den Fluss. Auf der anderen Seite angekommen, windet sich der Pfad in harten Steigungen den Berghang hinauf. Er ist mit scharfkantigem Kalkstein durchsetzt und trocken. Schon nach den ersten hundert Höhenmetern stöhnt Sophia. Der Wald ist nicht dicht, er ist urtümlich; über riesigen Farnen stehen einzelne Erlen, immer öfter dann Schierlingstannen und Lärchen, auch eine weiche Wacholderart bekommen wir zu sehen. Und endlich begegnen uns jene blühenden Baumrhododendren, für die Sikkim bekannt ist. Die Lepchas springen leicht und trittsicher wie Ziegen den Berg hinauf.
Als wir langsam den ersten Hügelkamm erreichen, von dem wir uns in Richtung Westen wenden können, schiebt sich stückchenweise der heute von Wolken befreite, weiße Kanchanjanghā in unser Blickfeld. Es ist, als gehe ein riesiger, zerklüfteter Mond auf. Oben dann steht der Berg als breitbeiniger Koloss vor uns, wuchtiger als ein gesamtes Panorama von Viertausendern in den Alpen. Von den fünf Hauptgipfeln des Kanchanjanghā-Massivs ist nur eine Doppelspitze zu sehen, und diese reckt ihren Scheitel in ein glasreines Blau, während die Hänge des Berges in symphonisch perfekten Klüften in die weniger hohen Gipfel, Kämme und dann in die Hügel hinabfallen, bis endlich der Dschungel sie auffängt.
Ich greife mir unser Fernglas. Doch auch mit bloßen Augen kann ich sehen, dass vor uns Anhöhe über Anhöhe steht. Es sind die ungeheuren Rockfalten eines kleineren, in unseren Karten namenlosen Berges, den Heman auf meine Nachfrage hin Alirgnahs nennt. Der Alirgnahs erhebt sich rechter Hand, sein Gipfel ist von unserem Standpunkt aus aber nicht zu sehen. Der Berg muss knapp fünftausend Meter hoch sein. (Wir selber – wir wissen es dank Sophia, welche für die elektronischen Geräte Sorge trägt, die einzige Tätigkeit, die sie noch mit Enthusiasmus betreibt – befinden uns auf 2023 Metern Seehöhe.) Heman erklärt uns, wir müssten wohl oder übel diese Anhöhen nehmen, denn nur dort hätten wir eine Chance, auf die Spuren von Christian und seinen Leuten zu stoßen. Gingen wir in Richtung Süden hinunter zur Tista und einem ihrer Zuflüsse, und diesen dann entlang nach Westen, würden wir zwar das Dorf N erreichen, aber würden bestimmt Christian verlieren. Also entscheiden wir uns für den beschwerlichen Weg.
Zwei Stunden später stolpern wir beinahe über eine kleine Lagerstelle. Sie muss von Christians Trupp stammen. Sie ist ganz frisch, einen Tag alt. Den sorglos weggeworfenen Abfall haben Ratten und Marder sortiert.
Das erste Nachtlager schlagen wir auf einer Anhöhe auf mehr als 2700 Metern Seehöhe auf. Von dort kann man mit bloßem Auge eine Handvoll Häuser oberhalb von Mangan ausmachen.
Sophia liegt vor mir auf einer Decke im Abendlicht. In düsteren Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher