Der dritte Berg
jetzt das Steuer. Es ist ein eigenartiges Gefühl, nun auf einer Straße zu fahren, die geradewegs hinauf nach Lhasa führt. Als gäbe es diese Stadt nur in Legenden.
Schließlich tauchen die grünen Bergkuppen um Gangtok vor uns auf. Vor einer Weile schon ist es spürbar kühler geworden. Links und rechts der Straße liegen seit einer Stunde Obst- und Teeplantagen auf den Hängen, dazwischen Bambushaine, Kardamombüsche, riesige Magnolien, ein andermal einige Reisfelder auf Terrassen, und überall geduckte Bauernhäuser. Die fünf Gipfel des Kanchanjanghā, des dritthöchsten Berges der Welt, schweben irgendwo weit hinten (und vor allem: oben); sie sind im Dunst verborgen.
Gangtok rückt deutlich ins Blickfeld, als wir über eine Kuppe kurven. Es ist eine etwas schiefe, kleine Stadt, die auf einem Hügel balanciert. Ein großer Teil von ihr scheint einen Berghang hinunterzugleiten. Hangrutschungen sind in Sikkim während des Monsuns fast alltäglich. Und im letzten Jahr gab es wieder ein großes Erdbeben. Ich bin an diesem Nachmittag froh, nicht in Gangtok zu leben.
Wie die Anzeige im Wagen vermeldet, ist die Temperatur auf neunundzwanzig Grad gefallen. An einer ersten größeren Ansammlung von ärmlichen Läden am Stadtrand hält Sophia an und steigt aus. Sie kann viel besser Hindi als ich. Ich bleibe im Wagen, schließe meine müden Augen und stelle meinen Sitz nach hinten.
Fünfzehn Minuten später kommt Sophia zurück. Sie ist von einem Laden zum nächsten gelaufen und hat Leute befragt. Nach Toyotas, nach bengalischen Kennzeichen, nach zwei älteren Europäern. Das Ergebnis ihrer Sammlung einander kaum widersprechender Aussagen lautet: Tags zuvor sind, wohl am Nachmittag, zwei schwarze Toyota-Geländewagen vorbeigekommen. Zumindest ein Europäer habe in ihnen gesessen, gemäß einer einzelnen Aussage auch zwei. Man habe kurz gehalten, und einer der Fahrer habe Wasser und Früchte gekauft.
Es ist bereits siebzehn Uhr dreißig. Die Sonne ist schon lange hinter den Bergkuppen verschwunden. Ich übernehme wieder das Steuer, und wir fahren ans andere Ende der Stadt. Dorthin, wo die Straße zum Tsangu-See und nach Lhasa führt. Dieselbe Prozedur. Aber niemand hat etwas gesehen. In diese Gegend kommen nicht viele Ausländer. Nach Tsangu, das an der tibetischen Grenze liegt, erhalten nicht alle Permits. Die andere größere Straße ist jene nach Mangan. Es dunkelt bereits, als wir an diesem lächerlichen Sträßchen am Nordrand von Gangtok anlangen. Hier hat Sophia abermals Erfolg. Man hat die Toyotas gesehen. Christian und seine Partner wähnen sich in Sicherheit, sie unternehmen nicht mal den Versuch, unsichtbar zu bleiben. Sophia ist ganz aufgeregt, springt zurück in den Wagen. Sie will unbedingt weiter. Auf keinen Fall will sie in diesem hässlichen Gangtok übernachten (dabei ist Gangtok nicht hässlich).
Ein großer, schwarzer Tintenklecks fällt auf Sikkim herab, als wir uns bereits auf dem Weg nach Mangan befinden. Plötzlich ist es Nacht geworden. Es sind kaum vierzig Kilometer, aber wir benötigen auf dieser abenteuerlichen Bergstraße über drei Stunden. Der Linksverkehr macht mir jedes Mal zu schaffen, wenn ich an einer Steigung mit der Handbremse anfahren muss. Müdigkeit schleicht in meine Glieder und friert meine Gedanken ein, meine Augen sind schlaff. Sie schmerzen aber nicht. Seit Wien habe ich kein Cortison mehr benötigt.
Von Mangan, der lächerlich kleinen Hauptstadt der Nordregion von Sikkim, bekommen wir kaum etwas zu sehen. Mangan besteht aus ein paar Gebäudegruppen, die sich mit Lichtern bemerkbar machen. In einer vollen Spelunke am Straßenrand gibt man uns sogleich bereitwillig Auskunft. Jeder hat die Fremden gesehen. Sie haben wahrscheinlich sogar hier übernachtet. Die Touristensaison ist in diesem Jahr schon zu Ende. Keine der ohnehin spärlichen Trekkergruppen hält sich noch in den Bergen auf. Der Monsun naht. Jeder Fremde und jeder große Wagen fällt auf. Es macht nun keinen Sinn, weiter auf der Straße entlang der Tista nach Norden zu fahren, in Richtung der Orte Chumthang und Lachung, wohin die schwarzen Toyotas unterwegs sind. Es gibt ein gutes Hotel hier, doch hat es in diesem Jahr schon geschlossen. Wir nehmen uns daher ein Zimmer in einer wilden Trekker-Absteige. Immerhin haben wir das einzige Zimmer im Haus mit eigenem Bad.
»Mann«, sagt Sophia, als sie in den schmutzigen Raum tritt. »Da riechts aber.«
Wir stellen unser Gepäck ab und öffnen das Fenster. Sophia
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