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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.F. Dam
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einer dunkelgrauen Wolkendecke. Als hätte es eine Sonne nie gegeben. Sie wissen nicht, wo sie sich befinden. Ihr GPS -Gerät mit dem Kompass ist gestern bei der Überquerung eines Flusses zerstört worden, als Fust ausglitt und sich an einem Felsen den Arm verletzte. Sie müssen sich jetzt in südöstlicher Richtung bewegen. Sie müssen südlich von Dzongri sein. Doch Maettgen hat vor einer Stunde die Ansicht vertreten, sie gingen geradewegs Richtung Südwesten, und sie befänden sich schon in Nepal. Die Träger murren. Sie wissen ebenfalls nicht mehr, wo die Gruppe sich befindet. Der Informant bedeutet ihnen stets, ihm einfach zu folgen.
    Gegen Mittag setzt der Monsun mit urtümlicher Gewalt ein. Der Wald aus Erlen, Tannen, Riesenfarnen und einzelnen großblättrigen Magnolien gleitet in eine Agonie. Der Regen fällt so dicht, dass Mukherjee froh ist, dass ihnen noch Luft zum Atmen bleibt. Der Sauerstoffgehalt der Luft, kalkuliert er, muss um mehr als zehn Prozent abgenommen haben. Die Hänge verwandeln sich innerhalb weniger Minuten in ein Gewirr schlammiger Bachläufe. Die Gehenden hören in der Regenbekleidung mit den Kapuzen nur noch ihren eigenen Atem, und den Regen. Hin und wieder das Rutschen eines anderen. Baumstümpfe stecken tot im Boden. Ameisen, Schlangen und Spinnen sind verschwunden. Fust geht neben Mukherjee her und wiederholt einen einzigen Satz, den Mukherjee nicht verstehen kann. Er sieht Fust an und nickt bloß immer wieder.
    Maettgen weint vor Erschöpfung. Er weiß, dass er es nicht wagen kann, zurückzubleiben. Die anderen werden ihn dem lärmenden, grünen Ozean überlassen müssen. Der Monsun und der Informant dulden keinen weiteren Aufschub. Die ganze Zeit über nimmt er Schmerztabletten und Prozac, als seien sie Vitaminpräparate. Aschgrau ist Maettgen geworden. Er fühlt nichts mehr, bloß eine stumpfe Angst. Und inmitten seiner Qualen und dem Dröhnen des Regens erblickt Maettgen den Gral. Das Licht blendet ihn, ein Zucken von Glückseligkeit, und einen Augenblick später schon sieht er sich eine hohe Pforte öffnen, er tritt in ein Kirchenschiff, und im Augenblick seines Eintretens brüllt ein Chor den zweiten Satz des Deutschen Requiems: Denn alles Fleisch, es ist wie Gras ; Riesenwellen stieben über Maettgen hinweg. Es ist, als risse ein Sturm aus den Mündern der Sänger alles Äußere in Fetzen von ihm und ließe allein ein barockes Skelett zurück.
    Plötzlich ein Schuss. Der Informant ist fünfzig, hundert Meter voraus. Kaum ist er noch zu sehen. Am hinteren Ende der kleinen, geduckten Karawane liegt ein Mann, der mit wildem Blick ein Loch in seiner Jacke anstarrt. Hellrotes Blut kocht aus ihm hervor. Die anderen beiden Träger laufen ihrem Freund mit einem Aufschrei zu Hilfe – der sie schon nicht mehr sieht. Christian Fust befiehlt ihnen, nun auch das Gepäck des Toten zu schultern und nachzukommen. Er richtet seine Glock-Pistole auf sie. Dann schließt Fust zu Mukherjee auf, der stehen geblieben ist, sich wortlos umgewandt und die Szene dort oben betrachtet hat, so, als habe sie mit ihm nichts zu schaffen. Maettgen begreift nicht, was geschehen ist, er lebt weit weg in einer Welt, in der es keine Schmerzen, keine Wälder und keine Toten gibt. Bloß Chöre und Symphonien. Mukherjee wirft Fust einen streng fragenden Blick zu. Fust antwortet erst nicht. »… hat umkehren wollen«, gibt er dann doch von sich, schreiend. »War kurz davor, handgreiflich … hatte keine Wahl …« Mukherjee nimmt es hin, er hat ja genickt. Die ohrenbetäubende Stille dieses Regens überträgt sich auf alle Ereignisse. Sie büßen ihre Realität ein. Sie verlieren ihre Kontur. Sie versinken im Regen, in der Brandung des Monsuns, welche ohne Gnade an den östlichen Himalaya schlägt.
    Mukherjee entkommt dieser REALITÄT ; er denkt an zwei aus einem beigeroten Kleid quellende Ballons, es war an diesem Abend auf der Terrasse, und von den Ballonfrüchten verengte sich die Vision in einer steilen Innenkurve, bevor alles wieder nach außen schwang und die Sicht auf eine zum ewigen Versinken einladende Weite öffnete. Und dann sprach sie, ließ tiefe, in seinem Unterleib vibrierende deutsche Worte aus ihrem Mund, zu diesem speckhäutigen Maettgen, der nicht zu ihr passt, Laute, die ihn diese Sprache lieben und … ja, Mukherjee beginnt sich zu fürchten. Was, denkt er plötzlich, wenn Fust ihm oder Maettgen die Waffe an den Kopf hält, bloß um den Informanten (ihn, der weiß) unter Druck zu

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