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Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J. F. Dam
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erfasst, dann ganz Sambia, schließlich bebt Afrika. Haare und Bärte Indiens werden in die Gullys gespült und verstopfen die Kanäle des Landes; übergewichtige Ehemänner eilen – am Westrand der Nacht – in vereinten Tausendschaften zu Huren, samenplatzend wie Blütenstände, die Näherinnen (an diesem Westrand) delirieren von Kindern Ehemännern Fernsehern Häuschen, und die Lastwagen der Welt stinken solidarisch mit der indischen Kanalisation. Die seit Jahren besänftigte Weltgeschichte brandet und zischt seltsam verhalten an unsere von steigenden Pegeln und Stürmen gefährdeten Küsten.
    Â 
    In New Delhi bricht der Morgen an, als unser Airbus landet. Sophia und ich werden aus dem Schlaf gerissen. Wir steigen um in einen Air-India-Jet, der uns quer durch Nordindien bis nach Kalonagar bringen wird. Sophia, die Frisur durcheinander, schläft wieder ein und ihr Kopf fällt auf meine Schulter. Ich spüre ihre Brüste an meinem Oberarm, während sich unter mir die grenzenlosen, erwachenden Getreidefelder der nordindischen Ebenen hinblättern, endlos wie eine Wüste, mit den Gipfeln des Himalaya an ihrem Rand. Alles gewaltig wie ein gelber Tigerrachen mit schneebedeckten Zähnen.

I
    DER TIGER WAR BEREITS URALT und müde, als die Segel der englischen Kolonialherren den Dunst am Horizont durchstießen.
    Kalonagar nähert sich, diese erste aller indischen Special Economic Zones , die dem Golf von Bengalen an den Busen gekleckert worden ist. Wie eine zertretene Muschel liegt die Stadt jetzt am Meer, und wir ziehen unsere Landeschleife – weiß, mit bunten Straßenbändern schiebt Kalonagars ocean side sich heran, scharf an den schwarzblauen Ozean geschnitten, dann hebt es sich uns glasblau entgegen, mit den Wolkenkratzern der Innenstadt, mit den Bankentürmen, Finanzinstituten und Unternehmensberatungen, die Stadt atmet; und Kalonagar, immer verschont geblieben vom magischen, gefräßigen Blick des Kolonialherrn, atmet nun aus, als wir nach links schwenken, es entfernt sich mit grünen Baumdächern und Villenvororten, mit einem Golfplatz, zwischendrin ein weitläufiges Universitätsgelände, dem man die Bibliothek, das Auditorium maximum und die Labors ansieht, schließlich die ärmlichen Wohnanlagen im Westen; irgendwo im Dunst weiter links der Hafen, von dem Britannien flottenweise Diebsgut verschiffte; wir ziehen die nächste Schleife, weiß an der Küste, azurblau und hoch die Innenstadt, wir bekommen nun auch Muschelfragmente im Norden zu sehen, dort wo die Stadt ganz unentschlossen ist, wo sie sich zögerlich gegen die Wirklichkeit stemmt, wo sie mit hellgrauen Lagerhallen, Autofabriken, Computerfabriken und den vier Kühltürmen eines Atomkraftwerks erst in die Sumpflandschaften rinnt, in die Marschen und Reisfelder, dann mit Zufahrtsstraßen, einer Autobahn, verschämten Vorortdörfern und Bahndämmen hinaus in das echte Indien. Denn nur hundertvierzig Kilometer weiter nördlich liegt das verlotterte Kalkutta. Und ein winziges Stück über den Ozean winkten Kalonagars Promenaden und Shoppingmalls, hätten sie das jemals gewollt, dem blutenden Bruder Bangladesh zu.
    Der Jet lässt das Stadtgebiet rechter Hand liegen und macht sich daran, uns endlich loszuwerden. Ich ahne schon den Flughafentower; das Fahrwerk bricht aus seinen Klappen. Dann die niedrigen, in Prismenhaufen angeordneten Flughafengebäude; bestimmt nicht nur von ferne sieht der Digha-Airport aus wie München oder Zürich, jedenfalls nicht wie ein indischer Flughafen.
    Ich denke wieder an die Hungersnöte der Vergangenheit. Sensenscharf wüteten sie durch das Land, während man an den knochigen Nasen von Millionen Sterbenden vorbei Getreide exportierte oder die rettenden Schiffe vorbeifahren ließ, Menschenopfer, dargebracht dem zu Launen neigenden Weltmarktpreisgott. Und ich denke an die falsche Loyalität der indischen, im Sold der Engländer stehenden Truppen, die diese caustischen Opferfeuer hundertneunzig Jahre lang bewachten.
    Sekunden vor dem Aufsetzen des Flugzeugs wirft Sophia mir einen prüfenden Blick zu. Sie errät meinen Gemütszustand. »Dein Großvater war ein zorniger Mann«, sagt sie, »und jeder kann das verstehen.«
    Â 
    Auf dem Weg zum baggage claim höre ich fast nichts, was meinen eng geschnittenen Eustachischen Röhren zuzuschreiben ist. Sophia quasselt vor sich hin,

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