Der dritte Mond
zumindest nervös sein müssen. Doch alles, was sie empfand, war ein sonderbares Gefühl der Leere. Sie fragte sich, was sie eigentlich hier tat. Skudder begann sich umständlich aus seinem Raumanzug zu schälen, und Charity lächelte flüchtig, als sie sah, daß er darunter sein geliebtes schwarzes Leder trug – die gleiche, zerschlissene Motorradkleidung, in der sie ihn kennengelernt hatte. Der Indianer war wieder auf dem Kriegspfad. Während Charity ihrerseits damit begann, ihren Schutzanzug abzulegen, drehte sie sich wieder zu den beiden Schlaftanks um. Dieser Anblick machte ihr Angst. Es war ein vollkommen unlogisches, grundloses Gefühl, aber trotzdem zu stark, um es zu ignorieren: Die Geräte entsprachen dem neuesten Stand irdischer Technologie und hatten mit dem Tank, in den sie vor mehr als einem halben Jahrhundert gestiegen war, ungefähr so viel gemein wie ein Lamborghini mit einem Pferdekutschwerk. Es bestand keine Gefahr. Selbst wenn die HOME RUN irgendwo auf halber Strecke zum Mars auseinanderbrach, würden die Tanks Skudder und sie zuverlässig schützen. Trotzdem hatte sie Angst davor. »Bist du soweit?« fragte Skudder. Nein, dachte Charity. Das bin ich nicht. Frag mich später noch einmal. So in dreißig oder vierzig Jahren. Aber sie sprach es nicht laut aus. Statt dessen drückte sie eine große, rote Taste auf der Oberseite des Tanks und wich zurück, als sich der Deckel zischend öffnete. Eine Woge eisiger, weißer Kälte schlug ihr entgegen. Aber sie war nicht einmal sicher, ob diese Kälte wirklich aus dem Inneren des Schlaftanks kam, oder nicht viel mehr aus ihr selbst. Mit einiger Mühe riß sie ihren Blick von dem zwei Meter langen, verchromten Sarg los und starrte an Skudder vorbei in die offenstehende Luftschleuse. Sie fragte sich, was sie in den gut sieben Wochen Schlaf, die vor ihr lagen, träumen würde.
Und plötzlich hatte sie Angst.
Kapitel 10
Angst war auch das erste Gefühl, das sich in ihrem Bewußtsein manifestierte, als sie wieder erwachte. Dann verspürte sie Kälte und fast augenblicklich das genaue Gegenteil: Ein Gefühl intensiver Hitze, das noch kein wirklicher Schmerz war, die Grenze zum Schmerz aber bereits berührte. Sie bekam keine Luft mehr, und sie hatte ein Empfinden, als würden Millionen winziger spitzer Nadeln überall zugleich in ihren Körper stechen. »Bleib ganz ruhig liegen. Das Schlimmste ist gleich vorbei.« Die Stimme drang wie durch Watte in Charitys Bewußtsein. Sie hatte Mühe, die Worte zu verstehen, und noch größere Mühe, den Sprecher zu identifizieren. Ihr Erwachen verlief irgendwie in zwei Phasen: Ihr Körper erwachte immer schneller, so daß sie jedes noch so winzige unangenehme Detail in vollen Zügen genießen konnte, aber ihr Bewußtsein kämpfte sich nur mühsam und wie durch einen zähen, klebrigen Sumpf in die Wirklichkeit zurück. Mittlerweile wußte sie immerhin wieder, wer sie war, und sie begriff auch, daß es Skudders Stimme war, die ihr immer noch zuredete, die Zähne zusammenzubeißen und ganz ruhig liegenzubleiben – als ob sie in der Lage gewesen wäre, auch nur einen Finger zu rühren! Ein neuerlicher, brennender Schmerz tobte sich für einen qualvollen Augenblick in ihrem rechten Oberarm aus, aber kurz darauf wurde es besser: Eine Welle wohliger, schwerer Wärme pulsierte durch ihre Adern, und die schwarzen Wirbel vor ihren Augen gerannen zu halbwegs vertrauten Umrissen und Konturen. Skudders Gesicht schwamm in einer schlierigweißen Unendlichkeit über ihr, bleich und wie von einer schweren Krankheit gezeichnet. Trotzdem lächelte er. »Besser?« »Frag mich, wenn dieser Alptraum vorbei ist«, murmelte sie. »Ich sehe nur Monster.« »Aha, es geht dir besser«, stellte Skudder fest. »Du bist fast schon wieder die Alte. Bleib einfach noch fünf Minuten ganz ruhig liegen. Ich mache inzwischen das Frühstück.« Skudders Gesicht verschwand aus Charitys Blickfeld, doch sie hörte ihn irgendwo unmittelbar in ihrer Nähe hantieren. Vermutlich vergingen tatsächlich nur die fünf Minuten, von denen Skudder gesprochen hatte, doch Charity kamen sie vor wie Stunden. Sie kämpfte abwechselnd gegen Übelkeit, Fieberschübe und Schüttelfrost, doch damit hatte sie gerechnet. Sieben Wochen Tiefschlaf bekam man nun mal nicht geschenkt. Sie machte einen Blitzentzug durch, um mit dem Medikamentencocktail in ihrem Körper fertig zu werden. Als das Schlimmste vorüber war, ließ sie noch einmal zehn oder
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